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Der Graben: Thriller (German Edition)

Der Graben: Thriller (German Edition)

Titel: Der Graben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kôji Suzuki
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unheimliche Stille in den Gärten. Als Sodeyama wieder nach oben kraxelte, blieb er einige Male stehen, um zu verschnaufen. Da er gerade erst dreißig geworden war, hielt er seine Kondition für gut, und er war daran gewöhnt, im Park bergauf und bergab zu laufen. Heute geriet er allerdings fürchterlich schnell außer Atem. Sein ganzer Körper fühlte sich merkwürdig schwer an – oder vielmehr war es, als ob die Atmosphäre dünner wäre. Sodeyama war noch nie höhenkrank gewesen, doch heute hatte er die seltsame Empfindung, als läge der Garten plötzlich in viel größerer Höhe.
    Als er erneut stehen blieb, befand er sich auf einem Fußweg, der sich diagonal einen Hang hinaufwand und von dem man auf das Sportfeld hinunterschaute. Zur einen Seite des Weges fiel der mit Rosmarin bepflanzte Hang sanft ab. Zwischen den Spitzen der stacheligen, länglichen Blätter saßen weiße Blüten, und der Kräuterduft war so berauschend, dass er Sodeyama den Atem nahm. Er fragte sich, ob sein merkwürdiges Gefühl von diesen Blüten kam, die außerhalb der Saison blühten. Er blieb stehen, lehnte sich an das Geländer auf der Talseite und schaute den Weg zurück, den er gekommen war. Durch die Talsenke hindurch konnte er ein Stück der Serpentinen der Nationalstraße sehen. Als wären die Autokolonnen, die sich zuvor dort gedrängt hatten, ein Spuk gewesen, war die Straße nun fast unbefahren. Nur hin und wieder schlängelte sich etwas Weißes durch sein V-förmiges Blickfeld.
    Sodeyama schauderte und zog seine Jacke zu. So ganz allein hier kam er sich schrecklich einsam vor, es war unerträglich. Als er das Geländer losließ und versuchte, weiter den Berg hinaufzugehen, sah er plötzlich noch heller weißen Rosmarin vor sich als zuvor. Das Weiß benebelte seine Sinne und ließ ihn erneut stehen bleiben. An winzigen Ritzen, die überall im Boden aufgesprungen waren, zeigte sich eine kaum merkliche Verwandlung, die Sodeyama nicht in Worte fassen konnte.
    Normalerweise fuhr er den Bus hinauf und hinunter und benutzte die Fußwege nur selten. Vielleicht konnten die Garten- und Landschaftspfleger die Veränderung genauer beschreiben. Er konnte nur seinen Eindruck schildern, doch eine einfache Frage ging ihm durch den Kopf: Haben wir hier jemals weißen Rosmarin gepflanzt?
    Vielleicht war es das, die Farbe; in seiner Erinnerung war der Hang von roten und violetten Kräutern bewachsen gewesen. Er spürte, wie sein Blick von dem dichten Rosmarin angezogen wurde. Der Stamm bewegte sich ganz eigenartig – er wurde dicker und dünner wie der Hals eines Tiers, das seine zerkaute Beute hinunterschlingt. Er schaute genauer hin und sah, dass dieser Eindruck von einem Ameisenschwarm kam, der am Stamm hinaufkrabbelte, nur hinauf, Tausende von Ameisen in einer Schicht über der anderen in wellenartiger Bewegung. Die Ameisen wallten zum Ansatz der Blätter hinauf, dann entlang ihrer dunklen Seiten bis zu den Spitzen. Von dort konnten sie nur noch herunterfallen. Bei dem Anblick kam Sodeyama unwillkürlich das Bild einer Gruppe älterer Menschen in den Sinn, die sich einen schmalen Bergpfad hinunterdrängten.
    Die Ameisen sanken ganz gemächlich von den Blattspitzen hinunter – viel langsamer, als ihre Beine sie hinaufgetragen hatten. Sie fielen in Formationen und hingen immer noch in Klumpen zusammen, auch nachdem sie auf dem Boden angekommen waren. An der Stelle, auf die sie fielen, befand sich ein zehn Zentimeter hoher Kegel, aus dessen Mitte weitere Ameisen schwärmten, sie quollen heraus wie Schaum, dockten an dem Rosmarinstamm an und krabbelten auf die weißen Blätter an der Spitze zu. Was zuerst nach Tausenden ausgesehen hatte, schienen eher Millionen zu sein. Wie gebannt beobachtete Sodeyama das Gewimmel. Obwohl ihn das nie zuvor gesehene Schauspiel fesselte, war er ganz ruhig. Während er die typische Haltung eines Beobachters einnahm, ging sein Atem jedoch noch schwerer.
    Für einen Augenblick schien die Luft selbst stillzustehen. War das eine optische Täuschung? Die Ameisen, die von den Blättern fielen, schienen alle auf einmal bewegungslos zu verharren, sogar mitten in der Luft. Als wäre dies das Signal, änderte der Ameisenschwarm die Richtung. Die fallenden Ameisen, die wuselnden Ameisen, alle vereinten sich zu einem Muster aus Punkten auf dem Boden, zu einer spitzen, schlanken Speerspitze am Talhang, und sie begannen, sich auf Sodeyamas Fußspitzen zuzubewegen. Verstört wich er ein paar Schritte zurück und machte sich

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