Der Graben: Thriller (German Edition)
Takato?«, raunte Hashiba Shigeko zu und durchbrach so das Schweigen. Es war eine banale Frage, doch er spürte, dass er die Anspannung irgendwie lockern musste.
»Das ist zu viel für mich«, klagte Shigeko und klang dabei fix und fertig. Sie sank in sich zusammen und kauerte auf dem Boden. Die Möwe legte erneut den Kopf schräg und beobachtete Shigeko einen Moment lang gleichgültig. Dann hüpfte sie hoch, breitete die Flügel aus und schwebte zum Himmel hinauf. Im gleichen Augenblick erhob sich ein Höllenlärm um den Schrein. Hunderte, ja, Tausende von Möwen schienen aus dem Gras ringsum aufzusteigen und sich mit schwirrenden Flügeln in die Lüfte zu erheben. Waren sie die ganze Zeit da gewesen, verborgen im Unterholz?
Unter ohrenbetäubendem Kreischen und Flügelschlagen stiegen die Vögel weiter zum Himmel hinauf. Höher und höher flog der riesige Schwarm, schraubte sich nach oben wie ein Wirbelsturm. Saeko hielt sich die Ohren zu und stieß einen gellenden Schrei aus, als die Stille so plötzlich unterbrochen wurde. Sie war sich dessen nicht bewusst, doch ihr Körper reagierte in unbewusster Erinnerung an die Angst, die sie während des Erdbebens in dem Haus in Takato verspürt hatte. Sie taumelte zurück und hätte sich am liebsten Augen und Ohren zugehalten.
Hosokawa, der unschlüssig war, ob er nun die Vögel oder Shigeko filmen sollte, versuchte, Hashibas Aufmerksamkeit zu erregen, doch Hashiba und Kagayama starrten beide wie gebannt auf das Schauspiel des riesigen Tornados aus Möwen am Himmel. Also beschloss er, die Kamera nach oben zu richten. Allmählich verschwand der Möwenschwarm in der Ferne. Eine dicke schwarze Wolke verdunkelte das Grün des Hangs unter ihnen. Nun konnten sie nur noch unzählige Pünktchen am Himmel sehen, die vor dem Zwielicht, das vom Meer kam, grau wirkten, bis sie schließlich von den Wolken verschluckt wurden und völlig verschwanden.
Da Hashibas Nacken vom langen Starren in die Höhe schmerzte, massierte er sich die Schultern. Das Ema mit dem roten Schriftzeichen hing wieder still an seinem Platz, doch es sah irgendwie anders aus, seltsam. Hashiba sah genauer hin, angestrengt. Ihm fiel auf, dass das Brettchen auf dem Kopf hing. Das Schriftzeichen für Glück war so symmetrisch, dass man es auch auf dem Kopf noch lesen konnte – eigentlich sah es fast genauso aus. Trotzdem wurde Hashiba das Gefühl nicht los, dass das zufällige Umdrehen des Zeichens kein gutes Omen war. Er war so in Gedanken versunken, dass er heftig zusammenzuckte, als Kagayama ihm die Hand auf die Schulter legte.
»Irgendetwas an diesem Ort ist ganz seltsam.«
Hashiba musste ihm zustimmen; anders konnte man es nicht ausdrücken. Die Atmosphäre war irgendwie merkwürdig, doch man konnte nicht genau sagen, warum. Der Himmel verdunkelte sich nun schon; bei diesem Licht würden sie nicht mehr filmen können. Hashiba sah, dass Saeko und Shigeko es geschafft hatten aufzustehen.
»Alles klar mit euch?«, fragte er und beschloss, dass es vermutlich am besten wäre, für heute Schluss zu machen und zurück zum Hotel zu fahren.
Er dachte zurück an das Haus der Fujimuras in Takato. Selbst dort war ihm die Atmosphäre nicht so merkwürdig vorgekommen wie hier. Wenn er dort etwas als seltsam empfunden hatte, so hatte es vermutlich an Shigekos Reaktionen gelegen. Hier dagegen konnten alle spüren, dass irgendetwas in der Luft lag. Hashiba schaute auf die Gänsehaut an seinen Armen – er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine Gänsehaut gehabt hatte. Selbst damals, als er beim Haus seines Schulfreundes in Mishima in dem Schuppen auf jemanden gestoßen war, der dort nicht hätte sein sollen, hatte er nicht so reagiert. Als Hashiba seine Ärmel aufrollte, sah er, dass alle Härchen an seinem Arm abstanden.
Dann sah er Hosokawa auf sich zukommen, der den Kopf schräg gelegt hatte und die linke Hand ans Ohr hielt. Nun streckte er die Hand aus. »He, Hashiba, schau dir das an…«
Das Zifferblatt seiner Armbanduhr hatte ein großes Feld für die Uhrzeit und eine separate digitale Anzeige in einem kleinen rechteckigen Feld, in dem man Luftdruck, Temperatur und Position ablesen konnte. Hosokawa machte Hashiba auf den Richtungsanzeiger aufmerksam:
350, 349, 345, 341, 337, 332, 322, 320, 314, 311, 305, 299, 256, 243,219, 199, 172, 145, 123, 99, 33, 9, 321, 269, 190…
Hashiba fiel auf, dass die Zahlenreihe einem bestimmten Prinzip folgte – auf einem Kompass hätte sich die Nadel von Norden
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