Der Graben: Thriller (German Edition)
kubische Gleichungen oder Gleichungen dritter Ordnung.
Zu beiden Seiten der Straße, auf der ich fahre, erstreckt sich weites Grasland, die Heimat unzähliger Pflanzenarten. Manche Gräser werden vom Wind zu Boden gedrückt, und ihre Halme schwanken unsicher. Andere Grasarten verankern lediglich starke, tiefe Wurzeln in der Erde. Man kann auch nur darüber staunen, wie artenreich die Fauna ist, die sich in der Flora verbirgt.
Imaginäre Zahlen sind wie Geister, die zwischen dem Sein und dem Nichts wandern, und sie sind wiederum viel zahlreicher als reelle Zahlen. Anders als bei den reellen Zahlen, die auf einer Geraden dargestellt werden, erstreckt sich das Reich der komplexen Zahlen auf einer Ebene, in zwei Dimensionen. Ohne die Hilfe dieser Phantome können wir die materielle Welt nicht in der Sprache der Mathematik beschreiben. Was bedeutet das eigentlich?
Ein Schlag von unten erschüttert meine Hände am Lenkrad – der Jeep bricht zur Seite aus. Meine Schläfrigkeit ist wie weggeblasen, ich umklammere das Lenkrad und korrigiere den Kurs. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was passiert ist. Es heißt ja, Müdigkeit sei ansteckend – ich muss eingenickt sein.
Ich halte am Straßenrand, weil es sicher gut ist, mal frische Luft zu schnappen und die Beine zu strecken. Die Sonne brennt heiß, die Luft ist trocken. Ich strecke die Arme und schaue zurück auf die Straße, die der Jeep heruntergekommen ist. Etwa zwanzig Meter weiter sehe ich ein rundes Loch im Asphalt. Die Straße ist insgesamt in ziemlich schlechtem Zustand und voller kleiner Löcher, doch ich muss mitten in eines der größeren gefahren sein.
Ich kicke ein paar Kieselsteine fort und formuliere einen Gedanken: »Unsere Welt ist nicht so stabil, wie alle glauben.«
Es ist, als wären wir über eine Brücke gegangen, die nur durch einen glücklichen Zufall noch nicht eingestürzt ist. Die moderne Technik kann nicht funktionieren, ohne dass man auf imaginäre Zahlen zurückgreift, die wiederum in Wirklichkeit nicht existieren können. Dies wirft die Frage auf: Was, wenn ein Mathematikgenie die Existenz solcher Zahlen leugnet und einen lupenreinen Beweis dafür erbringt? In Begriffe der realen Welt übertragen wäre dies so, als würde man nach dem Bau und dem Überqueren einer Brücke feststellen, dass ihre Pfeiler überhaupt keine Bolzen zur Verstärkung enthalten. Damit würde die Erkenntnis einhergehen, dass die Brücke jeden Moment einstürzen könnte.
Wenn die Welt, wie wir sie kennen, jemals einzustürzen beginnt, wäre das erste Anzeichen für uns eine Veränderung in der Mathematik. Solch eine Veränderung wäre der Beweis dafür, dass wir die Welt falsch interpretiert und am Bau gepfuscht haben.
Die Zahl Null stellt uns vor ein noch größeres Problem. In Berechnungen, in denen physikalische Konstanten des Universums vorkommen, erscheint der Moment Null im Nenner; dies führt zur Unendlichkeit und vermasselt jeden Versuch einer Quantifizierung. Die Null ist in der Lage, alles zu sprengen. Aus diesem Grund haben Mathematiker Mittel und Wege ersonnen, um die Null zu bändigen und zu vertuschen. Es ist beinahe so, als hätten sie einen Haufen Lügen erzählt, die doch irgendwann ans Licht kommen, und ich frage mich, auf welche Weise das Universum uns dies heimzahlt, wenn die Täuschung nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Bei dem Gedanken läuft es mir eiskalt über den Rücken. Wenn die Null irgendwo auftaucht, wo sie nicht sein sollte, ist das ein Vorbote davon, dass die Struktur des Universums kurz vor dem Kollaps steht, ein Zeichen, das spöttisch mahnt: »Tut mir leid, aber es ist zu spät, um den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen.«
Als ich mit den Händen meine Augen abschirme, kann ich auf der anderen Straßenseite ein grünliches Schild erkennen, auf dem die Entfernung zu den Tiwanaku-Ruinen angegeben ist: neun Meilen. Es beruhigt mich, dass es eine ganze Zahl ist. Allerdings finde ich es nicht schön, dass es nur beinahe eine runde Zahl ist.
Ich besuche die Ruinen von Tiwanaku zum ersten Mal. Als ich sie von der Stelle aus betrachte, an der ich meinen Jeep geparkt habe, scheinen sie mit der unscheinbaren, endlos weiten braunen Erde zu verschmelzen. Die Stätte ist etwa einen Kilometer lang und fünfhundert Meter breit, und es würde vermutlich ungefähr eine Stunde dauern, sie zu Fuß zu umrunden. Wenn ich solche Stätten besichtige, laufe ich normalerweise zuerst einmal außen herum, um ein Gefühl für das Ganze
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