Der Graben: Thriller (German Edition)
zu bekommen, bevor ich mich mit den Einzelheiten beschäftige. Heute entscheide ich, dass der Fußmarsch zu viel wäre, und folge dem Pfeil am Eingang, gehe durch den Kantataita-Tempel zur Puerta de Sol, dem Sonnentor, das in der nordwestlichen Ecke der Kalasaya-Plattform liegt.
In zwei Tagen werde ich Perus »Stadt im Himmel«, Machu Picchu, besuchen, die in 2.400 Metern Höhe über dem Meer auf einem schroffen Bergrücken liegt. Tiwanaku dagegen liegt knapp 4.000 Meter über dem Meer, allerdings in einer kargen Ebene. Die Gemeinsamkeit der beiden Stätten sind die massiven Steingebäude. In beiden Fällen ist nicht bekannt, wie Steine mit einem Gewicht von mehreren Hundert Tonnen in solche Höhen transportiert und aufeinandergeschichtet werden konnten. Warum mussten die Maya sich quälen, um solche riesigen steinernen Bauwerke zu errichten? Das Ausmaß dieser Leistung ist schwindelerregend. Und doch haben sie die steinerne Stadt, die Frucht solcher Strapazen, eines Tages vollkommen aufgegeben und sind irgendwo verschwunden, aus Gründen, die ebenfalls ein Rätsel sind.
Wenn ich die antiken Ruinen der Welt besichtige, frage ich mich oft, ob die Position der Steine, die häufig mit der Bewegung der Himmelskörper übereinstimmt, eine Bedeutung hat. Dies ist mir besonders in Stonehenge so gegangen, das ich während meiner Studienzeit in England besucht habe. Eine der belastbareren Theorien bezüglich des 5.000 Jahre alten Steinkreises ist, dass er als Kalender diente. Durch meinen Besuch konnte ich nicht feststellen, ob das stimmt oder nicht, doch wenn die Leute, die vor 5.000 Jahren gelebt haben, etwas von Sonnenjahren und Mondzyklen wussten, bringt das unsere Auffassung von der Geschichte der Zivilisation ganz schön durcheinander.
In der allgemein akzeptierten Geschichtsschreibung heißt es, dass Kopernikus 1543 seine Abhandlung über die Bewegungen der Himmelskörper veröffentlichte, die zur Wende vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild führte. Dennoch gibt es verschiedene Anzeichen dafür, dass ältere Kulturen nicht nur die Umlaufperiode der Erde kannten, sondern auch etwas über deren Kreiselbewegung wussten. Kann es wirklich sein, dass sie diese Formationen erbauten, um die Bewegungen der Himmelskörper abzubilden? Es ist in der Tat schwer vorstellbar, dass unsere Vorfahren ohne einen bestimmten Zweck solche Anstrengungen unternommen haben sollen. Kalender oder nicht, die Anordnung der Steine muss eine Bedeutung haben.
Nordwestlich der Kalasaya-Plattform, mit beiden Beinen fest auf dem trockenen Erdboden, steht das Sonnentor, ein großes Gebilde, das aus einem einzigen Steinblock aus den Anden gehauen worden ist. Abgesehen von den offensichtlichen Unterschieden in Größe und Umgebung sieht es aus wie eine kleinere Version des Arc de Triomphe in Paris. Wie ich schon auf Fotos gesehen habe, ist die Ostseite des Tors mit aufwendigen Mustern bedeckt, angeblich einer Inschrift in einer bis heute nicht entzifferten Sprache. Über den Inhalt gibt es die verschiedensten Theorien – die Zeichen sollen Auskunft über das naturwissenschaftliche Know-how der damaligen Zeit geben, sie sollen Angaben über die Bewegungen der Himmelskörper enthalten…
Ob man nun die Pyramiden oder Stonehenge betrachtet, der Bezug zwischen einem Bauwerk und den Bewegungen der Himmelskörper, vor allem der Sonne, war in der Tat stets ein Thema. Antike Zivilisationen beobachteten genauestens den Himmel, um die Zeit zu messen. Als ein Tag galten die 24 Stunden, welche die Erde braucht, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen, und als ein Jahr galten die 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 45 Sekunden, welche die Erde für einen Umlauf um die Sonne benötigt. Die Bewegungen am Himmel definierten die Zeit und führten zur Entstehung eines Kalenders. Für die damaligen Agrargesellschaften war ein Kalender notwendig, um die Jahreszeiten genau zu bestimmen.
Doch obwohl das Bestimmen der Länge eines Tages und eines Jahres sowie der wechselnden Jahreszeiten für Ackerbau und Viehzucht hätten ausreichen müssen, wurde in diesem Land ein Kalender entwickelt, der 1.200 Jahre in die Zukunft reichte.
Wenn die Inschriften hier den Hieroglyphen des alten Ägypten ähneln, könnte ich sie eventuell entziffern. Hieroglyphen wie auf dem Stein von Rosetta, den Napoleon von einem Feldzug nach Ägypten mitbrachte, waren fast zweitausend Jahre lang nicht mehr verwendet worden, und niemand konnte sie mehr lesen. In der ersten Hälfte des
Weitere Kostenlose Bücher