Der Graben: Thriller (German Edition)
zweites Blatt ein und ging in die Küche, um sich etwas Wein und Käse zu holen. Nachdem sie dem Gerät zehn Seiten entlockt hatte, beschloss sie zu lesen, während sie den Rest ausdruckte.
Das Manuskript war vermutlich in einem Hotel in Bolivien geschrieben worden, in jenem August kurz vor dem Verschwinden ihres Vaters.
Es begann wie eine Art Reisebericht, vermischt mit Partien, die sich für Saeko wie Entwurfsskizzen für ein neues Buch lasen.
17. August 1994. Republik Bolivien.
Die Altiplano-Hochebene erstreckt sich in südlicher Richtung zwischen den Ost-Anden und den West-Anden. Weiter im Osten, hinter den Bergen, liegt der tropische Regenwald des Amazonasgebiets. Boliviens Hauptstadt La Paz liegt im Norden der Hochebene unweit des Titicacasees – einem auf einer Höhe von 3.810 m über dem Meer gelegenen See. Trotz ihrer Lage zwischen dem Äquator und dem Wendekreis des Steinbocks liegt die Durchschnittstemperatur aufgrund der Höhe ganzjährig bei zehn Grad, mit teils extremen Tagesmaxima und -minima. Jetzt ist gerade Trockenzeit, und die Sonne scheint warm von einem fast wolkenlosen Himmel, doch bei starkem Südwind kann die Temperatur plötzlich abfallen.
Es ist kurz nach zwei Uhr nachmittags, und die Temperatur liegt bei knapp zwanzig Grad. Der Himmel ist frisch und klar, von einem tiefen, satten Blau. Wenn ich draußen mit dem Jeep unterwegs bin, habe ich mir angewöhnt, Jeans und T-Shirt zu tragen. Doch egal wie dünn ich mich anziehe, am Ende bin ich immer schweißgebadet. Ich wische mir mit meinem Schal den Schweiß von der Stirn, doch er kommt sofort wieder. Die Klimaanlage des Jeeps funktioniert nicht richtig, und wegen der staubigen Straßen kann ich die Fenster nicht öffnen.
Vor zwei Tagen bin ich in Japan zu dieser Reise aufgebrochen. Gestern ist mein Flugzeug zu einem Zwischenstopp in Miami gelandet; dort bin ich umgestiegen und habe einen Direktflug in die Hauptstadt La Paz genommen. Nach der Ankunft habe ich in dem Hotel gegenüber dem Stadtmuseum eingecheckt, das ich gebucht hatte, habe einen Jeep organisiert und mich über die lokalen geografischen Gegebenheiten informiert. Das Kulturdenkmal der Ruinen von Tiwanaku, das Ziel meiner Reise, liegt gut siebzig Kilometer westlich der Hauptstadt.
Heute Morgen habe ich das Hotel um acht Uhr verlassen und bin mit dem Jeep nach Nordwesten in die kleine Stadt Umamarca gefahren, die in einer schönen Schlucht an der Ostseite des Titicacasees liegt. Ich bin um den See herumgefahren, um die grandiosen Ausblicke zu genießen, und dann am Fluss entlang nach La Paz zurückgekehrt. Endlich habe ich mich auf den Weg nach Tiwanaku gemacht.
Die Straße ist kaum befestigt und führt schnurgerade durch das Grasland. Unterwegs tauchen ein paar Rauchlinien am Himmel auf, die wie Leuchtfeuer aussehen. Ich fahre in eine kleine Stadt.
Die Hauptstraße der Stadt ist von provisorischen Verkaufsständen aus Sperrholz und Blech gesäumt. Die Aymara-Indios verkaufen Flaschen mit sauberem Wasser und lassen sich durch die Staubwolken, die von den vorbeifahrenden Autos aufgewirbelt werden, überhaupt nicht stören. Die Stände sind schmutzig braun und vom Straßenstaub bedeckt. Die Standbetreiber tragen einfache Kleidung und sitzen auf Kundschaft wartend da. Andere Indios kauern in Gruppen am Straßenrand und plaudern. Ein paar Schweine laufen frei zwischen ihnen herum. Eines streift um einen Stand herum, wahrscheinlich auf der Suche nach übrigem Futter. Zwei kopulierende Hunde rennen auf die Straße. Hinter der Stadt ragen in der Ferne die mächtigen Anden auf, ein grandioser Hintergrund für die Hütten. Die Zeit vergeht so langsam, dass sie stillzustehen scheint, überall Anzeichen für einen friedlichen Nachmittag. Ich habe irgendwie nostalgische Gefühle, vermutlich, weil dieser Ort dem Zustand meiner Heimatstadt ähnelt, als sie nach dem Großen Erdbeben von Kanto 1923 wieder aufgebaut wurde.
Als ich die Stadt verlassen habe, wird die Landschaft wieder von endlosem trockenem Grasland beherrscht. Ich lehne mich auf dem Fahrersitz entspannt zurück, eine Hand locker am Lenkrad, und sehe zu, wie die Stadt im Rückspiegel langsam verblasst. Wenn die Straße nicht so schlecht wäre, dass es dauernd holpert, würde ich wahrscheinlich einnicken. Beim Fahren habe ich plötzlich die Illusion, die Straße, die sich in die Ferne erstreckt, wäre eine eindimensionale Zahlengerade. Der Gedanke bringt mich darauf, im Kopf ein bisschen Mathe durchzugehen, um gegen meine
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