Der Graben: Thriller (German Edition)
alte Erinnerungen so sehr wie der Geruchssinn. Meine überbordende trügerische Erinnerung muss den Duft mitgebracht haben.
Die südliche Sonne beginnt schon gen Westen zu sinken, doch die Hitze ist unerbittlich. Ich halte eine Hand an die Stirn und schaue angestrengt ins Licht.
Tiwanaku soll wie Machu Picchu eines Tages plötzlich von sämtlichen Bewohnern verlassen worden sein. Was mag sie bewogen haben, diese steinerne Stadt aufzugeben, mit deren Bau sie sich so abgeplagt hatten? Wo soll ich mit meinen Überlegungen ansetzen? Es gibt verschiedene Beispiele dafür, dass Menschen – ob sie nun in einer Stadt wohnten oder nicht – plötzlich beschlossen, weiterzuziehen. Zahlreiche Historiker und Archäologen vertreten die verbreitete Ansicht, dass Umweltveränderungen zu Nahrungsknappheit geführt haben. Diese Begründung ist auch im Fall von Tiwanaku angeführt worden. Die gängige Erklärung lautet, dass ein immer trockeneres Klima Landwirtschaft, Fischen und Viehzucht unmöglich machte und zum Zusammenbruch der Gesellschaft führte. Daraufhin verließen die Indios die Gegend auf der Suche nach fruchtbarerem Land.
Diese verbreitete Theorie sollte nicht blindlings akzeptiert werden. Es stimmt, dass Völker wandern, um Nahrung zu finden, doch dies als alleinige Begründung anzusehen ist zu simpel. Wir müssen davon ausgehen, dass die alten Völker nicht unbedingt so dachten wie wir heute. Während wir modernen Menschen problemlos mit abstrakten Konzepten wie Moral, Liebe und dem Guten umgehen können, waren unsere Vorfahren – abgesehen von der Minderheit, die lesen und schreiben konnte – dazu nicht ohne Weiteres in der Lage, weil dies das Beherrschen einer komplexen Schriftsprache voraussetzt. Ihre Wahrnehmung war eine ganz andere als unsere. Wenn wir heutiges Denken unverändert auf die damalige Zeit anwenden, vertiefen wir die Kluft nur und entfernen uns weiter von der Wahrheit.
Was also tun? Wir müssen aufhören, mit modernen Sichtweisen zu argumentieren, müssen Sprache und Denken der damaligen Zeit angemessen analysieren und uns dann auf unsere Vorstellungskraft verlassen. Wie haben unsere Vorfahren Leben und Tod aufgefasst? Nur indem wir unsere Maßstäbe ablegen und deren Anschauungen nachempfinden, können wir einen Blick auf die Wahrheit erhaschen.
Als einer der Gründe für das plötzliche Aufgeben Machu Picchus wird genannt, dass die Bewohner den Angriff eines übermächtigen Feindes fürchteten. Es stimmt schon, die Inkas zitterten damals vor der Spanischen Eroberung, doch es gibt keinerlei Hinweise dafür, dass Machu Picchu jemals wirklich angegriffen wurde. Ein Grab mit über einhundert Leichen wurde gefunden, doch die Überreste deuten nicht auf einen Kampf hin.
Machu Picchu wurde von dem amerikanischen Archäologen Hiram Bingham entdeckt, der glaubte, die legendäre Stadt Vilcabamba gefunden zu haben. Doch als der sagenhafte Goldschatz des Reichs bei den Ausgrabungen nicht zutage gebracht wurde, folgerte Bingham, dass er auf eine zuvor unbekannte antike Stadt gestoßen sein musste. Die Ausgräber fanden zwar kein verborgenes Gold, dafür aber in der Nähe d es »Opfersteins« 173 mumifizierte Leichen, von denen eige nartigerweise 150 weiblich waren. Eine Erklärung der Archäologen lautet, dass Machu Picchu mit seinen vielen Schreinen eine Kultstätte war und zu seinen Einwohnern zahlreiche Priesterinnen zählten. Eine andere Theorie behauptet, dass die Inkas vor ihrer Flucht vor den Spaniern alle älteren Frauen getötet und begraben hätten, weil sie sonst langsamer vorangekommen wären. Doch ob sie nun mit der Suche nach Nahrung in einer anderen Gegend oder mit der Furcht vor Feinden begründet werden, die verbreiteten Theorien einer Flucht sind allzu schnell bei der Hand. Jede Interpretation der Tatsache, dass 150 von 173 Mumien Frauen waren, kann nicht mehr als eine Vermutung eines Einzelnen sein. Anstatt zu entscheiden, ob man der Vermutung von jemand anderem Glauben schenken soll oder nicht, warum sich nicht lieber selbst eine überzeugendere Erklärung einfallen lassen?
Ich habe schon wieder das Gefühl dieses Déjà-vus. Allmählich bin ich mir sicher, dass ich genau diese Landschaft schon einmal gesehen habe. Doch nicht nur gesehen, auch gehört, gerochen, geschmeckt und gefühlt. Der staubige Wind scheint mir ins Ohr zu flüstern. Die Luft, die mich umhüllt, fühlt sich rau auf der Haut an, und auf der Zunge schmecke ich sonnengetrocknete Erde.
Es gibt nichts, das so zart
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