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Der Graben: Thriller (German Edition)

Der Graben: Thriller (German Edition)

Titel: Der Graben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kôji Suzuki
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ist wie Empfindungen. Plötzlich spüre ich etwas Kaltes im Nacken und bekomme eine Gänsehaut. Zuerst weiß ich gar nicht genau, warum, doch nach und nach erkenne ich das Gefühl. Es ist weniger so, dass ich eine Landschaft betrachte, vielmehr werde ich von etwas betrachtet. Nicht nur von einem, sondern von vielen, als stünde ich vor Publikum auf einer Bühne.
    Der halb unterirdische Tempel ist neun mal zwölf Meter groß und liegt 1,80 Meter tief im Boden. An der Südseite führen Stufen hinunter. Ich stehe oben und schaue hinab. Die rechteckige Fläche ist von kunstvoll aufgeschichteten Steinen umgeben, und in der Mitte steht eine große Steinsäule, flankiert von zwei kleineren. In die mittlere Säule ist die menschliche Gestalt des Viracocha eingemeißelt.
    Viracocha taucht in vielen der alten südamerikanischen Legenden auf. Wahrscheinlich stellt man ihn sich besser als Gruppe von Menschen mit bestimmten Talenten vor, nicht als einzelnen Mann. Je nach Legende wechseln Name, Alter und die Orte, an denen er erscheint. In allen wird sein Äußeres jedoch mehr oder weniger identisch beschrieben: groß, hellhäutig, in ein Gewand mit einem Gürtel gekleidet und mit einem Kinnbart.
    Es heißt, dass er eines Tages aus dem Nichts erschien, um den Einheimischen auf verschiedene Weise nützlich zu sein. Er baute Bewässerungskanäle, brachte ihnen bei, Bauwerke aus Stein zu errichten, pflanzte Feldfrüchte an und heilte sogar die Kranken. Er predigte Barmherzigkeit, beendete Streitigkeiten, ermunterte zu guten Taten, strahlte Würde aus und nötigte allen Menschen Respekt ab. In erster Linie war er Wissenschaftler, doch auch Architekt und Künstler. Er war redegewandt und lehrte Aymara, die älteste Sprache der Welt. Kurz gesagt, durch ihn, den Gottähnlichen, wurden Zivilisation und Ordnung in ein primitives Land gebracht.
    Doch Viracocha blieb niemals lange an einem Ort. Sobald sein Werk getan war, ging er so plötzlich, wie er gekommen war.
    Das in die Säule eingemeißelte Relief ist eher abstrakt als naturgetreu. Viracochas Haar ist lang, und ein voller Bart umrahmt seinen Mund. Seine Stirn ist geformt wie der Fudschijama, seine Nase rundlich, das Gesicht oval, und die Augen sind lediglich Kreise. Augenbrauen und Lippen sind männlich, wie dicke, an den Enden zusammengedrehte Seile. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass er Tränen in den Augen hat. Dieses Merkmal ist eindeutig Teil der ursprünglichen Figur und nicht durch Abrieb oder Zerfall im Laufe der Jahrhunderte entstanden.
    Ist es Mitgefühl mit der weinenden Figur? Ich stelle fest, dass ich den Tränen nahe bin, und tupfe mir mit einem Taschentuch die Wangen ab. Die Sonne steht nun hinter der Säule und verleiht dem Mann einen Heiligenschein. Als Gesicht und Sonne auf einer Höhe sind, sieht es aus, als würde die Sonne selbst weinen.
    Später, auf dem Rückweg von Tiwanaku nach La Paz, stieß ich auf einen jungen japanischen Rucksackreisenden, der trampte. Es war spät, und es wurde schon dunkel, daher fühlte ich mich verpflichtet, ihn mitzunehmen. Er war redselig; während der gesamten Fahrt saß er nach vorn gebeugt da, den Kopf zwischen den Lehnen der Vordersitze, und erzählte aufgeregt von seinen eigenen Theorien über die antiken Kulturen. Er schien es für am wahrscheinlichsten zu halten, dass Furcht der Auslöser war, der sie vertrieb. Furcht ist im Laufe der Zeit in der Tat immer ein grundlegender Faktor gewesen, wenn es um menschliche Verhaltensmuster ging, sodass an seinem Gedanken durchaus etwas dran sein könnte. Am nächsten Tag wollte er nach Machu Picchu aufbrechen.
    Ich ließ ihn vor dem Tiwanaku-Museum raus und kehrte gerade vor Anbruch der Dunkelheit in mein Hotel zurück. In meinem Zimmer legte ich meine Schultertasche auf den Tisch und schaute auf die Uhr auf dem Nachttisch zwischen den beiden Betten – es war kurz nach fünf. Ich legte mich aufs Sofa, um mich eine Weile auszuruhen, und starrte an die Decke.
    Ich wollte vor dem Abendessen noch ein bisschen entspannen. Ein Restaurant hatte ich schon ausgesucht: ein ungezwungenes bistroähnliches Lokal an der Plaza del Estudiante, nur fünf Minuten vom Hotel entfernt. Ich rief an, um einen Tisch zu bestellen, und reservierte für 8 Uhr, wenn geöffnet war. Bis dahin musste ich nur noch duschen – reichlich Zeit, um ein paar Gedanken aufzuschreiben, die mir durch das Sonnentor mit seinen detaillierten Reliefs gekommen waren.
    Vor einiger Zeit habe ich mich an der Frage

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