Der Graben: Thriller (German Edition)
die Möglichkeit eines schmerzlosen, raschen Endes. Er wusste nicht, was ihn jenseits des Wurmlochs erwartete; er konnte nur Unklarheit und Chaos sehen. Angesichts der unmöglichen Entscheidung gab Hashiba jeden Versuch auf, rational zu überlegen, und reckte den Hals nach oben. Immer noch verlöschte ein Stern nach dem anderen, und jeder schien das unablässige Verrinnen der Zeit zu betonen. Seine Nerven lagen blank.
Er schloss die Augen und faltete die Hände zum Gebet.
53
Es hat alles mit dir angefangen…
Immer wieder hörte Saeko im Kopf Seijis Worte. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie bekam nicht heraus, was er damit meinte. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu fragen. Sein Mund stand halb offen, und er hatte die Stirn gerunzelt. Saeko hatte noch nie gesehen, wie eine Schlange ihr Gift verspritzte, doch genau dieses Bild fiel ihr ein, als sie ihn jetzt anschaute.
»Du weißt immer noch nicht, wie die Welt funktioniert, oder, Kleines?«
Saeko setzte sich kerzengerade auf. Wie die Welt funktioniert. Diese Formulierung hatte ihr Vater unzählige Male benutzt. »Und Sie meinen, Sie wissen es?«
»Na ja, das ist wie ein Bündel aufgerollter Fäden. Jedes Ende hat sein eigenes Konzept, das genaue Gegenteil von dem des anderen Endes.«
»Und?«, drängte Saeko.
»Diese Konzepte kann man sich nicht als isoliert voneinander vorstellen, getrennt durch die Länge des Fadens. Sie unterstützen sich gegenseitig. Sie ergänzen sich. Der Faden verbindet sie. Du weißt, wie der Teufel entstanden ist, oder? Der Teufel ist ein gefallener Engel.« Seiji stieß ein vulgäres, krächzendes Lachen aus.
Wieder verspürte Saeko eine Angst vor etwas, das sie nicht ganz einordnen konnte. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, das Universum setze sich aus entgegengesetzten Konzepten zusammen. »Gott und der Teufel ergänzen sich?«
»Selbst das Geringste, was geschieht, hängt mit irgendetwas anderem zusammen.« Seiji strich mit den Fingern über den Tisch neben sich. »Das ist wie ein Spinnennetz, ein erstaunlich kompliziertes Gewebe aus Fäden. Die Welt ist auf den Schultern dieser Beziehungen erbaut. Das Verstreichen der Zeit ist lediglich ein Ausdruck von Entwicklung und Wandel in diesen Beziehungen.«
Saeko schaute auf ihre Armbanduhr. Warum saß sie hier und hörte zu, was er ihr sagte? Wenn es ihr Vater gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich ungeduldig auf mehr gewarte t, doch die Worte dieses grotesken Mannes… Sie konnte darin nichts als einen schwachen Versuch erkennen, seine abstoßende Art zu verbergen. Sie wollte so schnell wie möglich aus dieser Lage heraus, und jeder Augenblick war kostbar.
Sie warf einen Blick auf den Gips an seinen Beinen. Wenn sie den Korridor hinunterrannte, würde er sie kaum verfolgen können, doch sie musste sicher sein, was mit dem Wurmloch war. Würde es sich in diesem Raum öffnen oder nicht? Außerdem musste sie wissen, was Seiji damit gemeint hatte, dass alles mit ihr angefangen hätte. Sie musste wissen, was mit ihrem Vater passiert war. Sie musste Seiji zum Reden bringen.
»Kommen wir zurück zum Punkt. Genug mit den Abschweifungen.«
»Nicht gerade die Haltung, die man erwarten würde, wenn jemand um einen Gefallen bittet, oder? Du willst also wissen, was passiert ist, ja?«
Saeko wollte schon nicken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Mit wild klopfendem Herzen funkelte sie den Mann vor sich an. Sie konnte nichts tun als zu warten.
»Also gut. Die Menschen sind sich nur eines winzigen, unendlich kleinen Teils der Welt bewusst. Die Welt ist wie ein Eisberg, der größtenteils unter der Meeresoberfläche verborgen liegt. Was die meisten Leute wahrnehmen, ist nur der sichtbare Teil, doch manche Menschen sehen mehr. Sie können das Geflecht von Beziehungen unter der Oberfläche erkennen. Das sind die Menschen mit einer dritten Brustwarze – also wir. Die alte Schachtel Shigeko war auch so eine. Manche ihrer besseren Vorhersagen haben genau ins Schwarze getroffen.
Das Leben ist voller Fallstricke, es ist niemals weit zur nächsten Katastrophe. Der Vertrag zwischen Gott und Teufel war immer in Kraft, ist jedoch geschickt geheim gehalten worden. Daher schieben die Leute alles Mögliche auf ihr Glück oder Pech; sie sind unfähig, die Wahrheit zu erkennen. Es ist einfach, Unwahrscheinliches mit dem Mäntelchen des Zufalls zu bedecken.«
Seiji zog die Krücken hinter sich heraus und legte sie sich auf den Schoß. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, beugte
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