Der Graben: Thriller (German Edition)
sich vor und wiegte den Kopf in den Händen. Die Bewegung sollte ihre Aufmerksamkeit fesseln, doch Saeko entdeckte darin einen Anflug von Erschöpfung. Der drohende, herausfordernde Blick, dem sie beim Betreten des Zimmers begegnet war, schien an Kraft zu verlieren.
Saeko ergriff die Gelegenheit. »Sie haben eben gesagt, Sie hätten die Familie umgebracht. Das war eine Lüge, oder?«
Seiji riss die Augen auf und zog die Brauen hoch. Er kratzte sich am Hals, als schmerzte es unter der Haut. Mit der Energie, die ihm noch blieb, stieß er hervor: »Wie komms t du darauf?«
»Sie würden sich nicht selbst die Hände schmutzig machen. Das wird klar, wenn man Ihnen zuhört.«
»Tja, du kannst dir deine eigene Meinung bilden.«
»Beantworten Sie mir nur eine Frage.« Saeko sprach nun bittend und unterdrückte ihren Zorn. »Was ist mit meinem Vater passiert?« Zumindest das wollte sie wissen.
»Bist du sicher, dass du das wissen willst?«
»Bitte, sagen Sie es mir einfach…«
»Du weißt doch schon, was passiert ist.«
»Halten Sie mich nicht zum Narren!«
»Überleg mal, was hier vor achtzehn Jahren passiert sein könnte. Finde es selbst heraus. Denk an die Reihenfolge der Ereignisse.«
Saekos Blicke huschten hierhin und dorthin.
Finde es selbst heraus. Versteh die Logik…
Das hatte ihr Vater ihr immer eingebläut. Nur wenn sie überhaupt nicht mehr weiterkam, gab er ihr ein Bild als Impuls. Es war unerlässlich, sich etwas bildlich vorzustellen; ohne dies war alles logische Denken ziemlich blutleer.
Saeko beschloss, Seijis Herausforderung anzunehmen. Um nachzuvollziehen, was ihr Vater an jenem Augusttag vor achtzehn Jahren gemacht hatte, versuchte sie, sich die Einzelheiten so lebendig wie möglich vorzustellen.
Aus irgendeinem Grund hatte er nach acht Uhr abends in seinem Hotel in Narita plötzlich seine Pläne geändert und beschlossen, nach Takato zu fahren. Um diese Uhrzeit konnte man nicht mehr mit dem Zug dorthin fahren; das einzig mögliche Transportmittel musste ein Taxi gewesen sein. Kitazawa hatte ihr bestätigt, dass ihr Vater für die Fahrt keinen Wagen gemietet hatte.
Saeko hatte nur wenige Anhaltspunkte dafür, was seine Begleiterin Haruko gedacht haben mochte. Vielleicht hatte sie sich während ihrer Bolivienreise in Saekos Vater verliebt, doch wie fest war ihre Beziehung gewesen? Hatte Haruko beschlossen, alles hinzuwerfen? Oder hatte sie nur ein bisschen Spaß haben wollen? Welche Gefühle hatte sie für ihren Mann gehabt?
Hier hielt Saeko inne. Warum hatte sie Harukos Mann nie mit berücksichtigt? Wenn ihr Vater sich in Haruko verliebt hatte, dann musste er sich mit ihrem Ehemann, mit Kota, auseinandersetzen. Es war ihr vorher einfach nicht in den Sinn gekommen, an ihn zu denken. Sie versuchte, sich Haruko und ihren Vater vorzustellen, wie sie Hand in Hand den Flughafen verließen. Und dann, an ihrem Ziel, Harukos Mann, der auf sie wartete: Kota Fujimura.
Jetzt erkannte sie auch noch etwas anderes und begriff ihren Irrtum, sobald sie sich vorstellte, wie ihr Vater und Haruko einander umarmten. Sowohl das Bild als auch die Logik zeigten ihr, dass nicht Seiji die dritte Brustwarze hatte, sondern Kota.
Als sie die Situation zwischen ihrem Vater und Haruko vor jenen achtzehn Jahren in Verbindung mit ihren eigenen Erfahrungen betrachtete, wurde aus ihrer Ahnung Gewissheit. Sie hatten sich in Bolivien kennengelernt und beschlossen, gemeinsam zu reisen, doch sie waren nicht miteinander intim geworden. Vielleicht aus Rücksicht auf Harukos Ehe war es ihrem Vater gelungen, seine Leidenschaft zu zügeln und diese Grenze nicht zu überschreiten. Mit anderen Worten: Er liebte Haruko so, dass er ihre Lage respektierte.
Es gab keine andere Erklärung für den Zeitpunkt, an dem ihr Vater plötzlich seine Pläne geändert hatte. Die beiden waren nach Japan zurückgekehrt und hatten sich für ihre letzte gemeinsame Nacht ein Hotelzimmer genommen. Haruko hatte vorgehabt, am nächsten Tag zu ihrem Mann zurückzufahren. Vielleicht hatte der Schmerz über die bevorstehende Trennung sie dazu gebracht, den letzten Schritt zu tun. Nachdem Saekos Vater sie angerufen hatte, war irgendetwas passiert. Wie von Sinnen hatten sie sich die Kleider vom Leib gerissen, doch irgendetwas hatte sie unterbrochen – genau wie bei ihr und Hashiba.
Die bruchstückhaften Bilder jagten ihr durch den Kopf wie eine Rückblende im Film. Sie sah zwei Körper in leidenschaftlicher Umarmung, die ineinander verschlungen auf das
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