Der Graben: Thriller (German Edition)
herum. Sie wollte um Hilfe schreien, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Gerade als sie merkte, dass sie gleich ins Nichts stürzen würde, riss etwas sie in die Gegenwart zurück. Sie spürte etwas Warmes auf dem linken Handrücken, und als sie die Augen aufschlug, sah sie Hashibas beunruhigtes Gesicht, das sie prüfend ansah. Er hatte ihre Hand umklammert.
»Alles in Ordnung?«
Seine Besorgnis war aufrichtig. Saeko spürte, wie durch seine Berührung ein warmes, beruhigendes Gefühl in sie hineinströmte. Sie kam rasch wieder zu sich. Im Bruchteil einer Sekunde kehrte sie zurück in ihren Körper und nahm den Gesprächsfaden wieder auf. »Entschuldigen Sie. Ein Anflug von Anämie.«
Hashibas Miene entspannte sich ein wenig und er nickte kurz, machte jedoch keine Anstalten, ihre Hand loszulassen.
Saeko war überrascht, dass das Verhalten einer anderen Person sie davor bewahrt hatte, in ihrem Kummer zu versinken.
6
Aus der Bibliothek konnte man keine Bücher ausleihen, und die Besucher durften lediglich Papier und Schreibzeug mitbringen. Alles, was Saeko brauchte, waren ein Notizbuch, ein Kugelschreiber und die Postkarte von ihrem Vater. Jede Ebene war nach Themen kategorisiert. Saeko stieg die Treppen zum vierten Stock hinauf, in dem sich die naturwissenschaftlichen Bücher befanden.
Während der Mittel- und Oberschulzeit hatte sie hier häufig gelernt, doch nach dem Verschwinden ihres Vaters war sie nie mehr hergekommen. Durch den vertrauten Geruch der Bibliothek kam ein Schwall wehmütiger Kindheitserinnerungen in ihr hoch. In einem Jahr war sie gegen Ende der Frühjahrsferien ein paarmal hier gewesen, um an einer »Hausaufgabe« zu arbeiten, nachdem sie von einem Besuch bei ihren Großeltern in Atami zurückgekehrt war. Die Aufgabe hatte sie in einem Radsportpark in Izu erhalten, den sie mit ihrem Vater besucht hatte.
Saekos Vater hatte damals sehr viel Arbeit und war häufig auf Geschäftsreisen in Übersee. Es tat ihm leid, dass er nicht mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen konnte, und so beschloss er, dass Saeko die Ferien am besten bei den Großeltern in Atami verbrachte. Saeko war damit einverstanden – es war lustiger, sich während der Frühjahrsferien von den Großeltern verwöhnen zu lassen.
Die Großeltern hatten sie mit ihrer Zuneigung überschüttet, beinahe als wüssten sie, dass sie im nächsten Jahr sterben würden. Anfang April, als die Kirschbäume in voller Blüte standen und das Verhätscheln ihrer Großeltern Saeko gerade auf die Nerven zu gehen begann, wurde die Überseereise ihres Vaters unerwartet abgebrochen, und er nutzte die Gelegenheit, um zu seinen Eltern nach Atami zurückzukehren. Er kam am frühen Morgen an und schlich nach oben, um seiner Tochter ins Ohr zu flüstern: »Sae, wach auf! Papa ist da!«
Als sie die Augen aufschlug und das Gesicht ihres Vaters erblickte, durchströmte sie eine Welle der Erleichterung. Rasch setzte sie sich auf, außer sich vor Freude, den Vater zu sehen. Sie schlief in einem Tatami-Raum mit zehn Matten, der auf eine riesige Veranda hinausging und viel zu groß für eine Person war. Durch ihren Vater, der dort im Schneidersitz im fahlen Morgenlicht saß, empfand sie die gähnende Leere des Raums nicht mehr als schmerzhaft, und seine Wärme vertrieb die frühmorgendliche Kälte. Saeko beugte sich über ihre herrlich weiche Decke. Sie war versucht, noch einmal einzuschlafen, und wusste, dass sie dann sorglose Träume haben würde.
Ernährten Albträume sich von Angst? Als Saekos Vater fort war, träumte sie oft von seinem Tod. Dann fuhr sie aus dem Schlaf auf, ihr Puls raste, und sie wollte unbedingt ihren Vater sehen und sich vergewissern, dass es ihm gut ging. Wenn er nicht da war, wurde sie bis zu seiner Rückkehr eine unterschwellige Furcht nicht los. Und wenn er auf Geschäftsreise war, ging es ihr erst besser, wenn er wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt war. Saekos Vater wusste das und rief sie grundsätzlich jeden Abend um acht Uhr an, wenn er unterwegs war.
Saekos Angst, ihren einzigen Beschützer zu verlieren, war enorm. Ihre Großeltern liebten sie zärtlich, doch sie konnten ihr den Vater nicht ersetzen. Wegen ihres empfindsamen Gemüts wurde sie von den lebhaften Vorstellungen, die sie sich von seinem Tod machte, umso heftiger erschüttert, und unzählige Male hatte sie sich in den Schlaf geweint, nur weil sie die Vorstellung von einer Welt ohne ihren Vater so traurig fand. Wenn sie zu Neujahr oder anderen Anlässen einen
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