Der Graben: Thriller (German Edition)
sie Saekos Ankunft erwartet. Saeko spürte, wie ihr Misstrauen schwand.
Die Frau hieß Chieko Kitazawa, und sie war Hideaki Kitazawas Frau und Geschäftspartnerin. Das Paar betrieb die Detektei gemeinsam.
In den letzten achtzehn Jahren hatte das Büro sich enorm verändert. Der Raum war renoviert und modernisiert worden, und mehrere Computer standen nun praktischerweise in der Mitte. Ein unwissender Besucher wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich um ein Detektivbüro handelte.
Zuvor hatte das Büro nur einen Raum im dritten Stock des Gebäudes in Anspruch genommen, doch mittlerweile belegte es die gesamte Etage; offenbar waren die Geschäfte in den letzten Jahren gut gelaufen. Außer Kitazawa waren hier nun sechs weitere Detektive und drei Sekretärinnen beschäftigt. Das Büro gehörte einer landesweiten Organisation von Experten verschiedener Spezialgebiete an und bot auch Dienste wie Detektivschulungen, Corporate Research und anderes an. Aus einem ausschließlich auf Vermisstenangelegenheiten spezialisierten Büro hatte sich das Unternehmen zu einer vielseitigen Detektei entwickelt, die alle möglichen Informationen beschaffte.
Doch Chieko Kitazawa war nicht mehr da; sie war vor vier Jahren an einer Krankheit verstorben. Sie und ihr Mann hatten beide enorm viel für Saeko getan. Wäre Saeko damals bei ihrem ersten Besuch nicht Chieko, sondern dem einschüchternden, finsteren Blick Hideaki Kitazawas begegnet, wäre sie wahrscheinlich schleunigst getürmt, ohne ihr Anliegen vorzutragen. Doch an dem Tag hatte Chieko das Büro geleitet und sich nach Saekos Situation erkundigt.
In den vier Jahren seit ihrer letzten Begegnung war Hideaki Kitazawa merklich gealtert. Er war mittlerweile sechzig Jahre alt, und das jahrzehntelange harte Leben hatte seinen Tribut gefordert. Sein Gewicht jedoch schien – was wenig überraschend war – nicht unter die Einhundert-Kilo-Marke gesunken zu sein.
Als Kitazawa auf Saeko zuging, schwankte seine massige Gestalt hin und her. »Hallo, junge Dame. Was verschafft mir das Vergnügen?« Kitazawa grinste von einem Ohr zum anderen und bedeutete Saeko, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
»Sie sehen gut aus«, stellte Saeko fest und versuchte, sich ihre Überraschung darüber nicht anmerken zu lassen, wie stark er gealtert war. Zuletzt hatte sie Kitazawa auf Chiekos Beerdigung gesehen. Damals hatte er so verloren ausgesehen, dass sie es kaum ertragen hatte, ihn anzuschauen.
Plötzlich empfand Saeko heftige Reue. Als der Schmerz über den Verlust ihres Vaters sie überwältigte, hatte Kitazawas Unterstützung ihr die Kraft zum Weiterleben gegeben. Doch als Kitazawa nach dem Verlust seiner Frau am Boden zerstört gewesen war, hatte Saeko nichts getan, um ihn zu trösten. Jetzt wünschte sie, sie wäre zurückgekommen, um mit ihm zu reden.
Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sich in ihrem Leben in den letzten Jahren mit der Scheidung, dem Aufgeben ihres Jobs und dem Beginn einer neuen beruflichen Laufbahn so viel bewegt, dass sie zu beschäftigt gewesen war, groß an andere zu denken.
»Tut mir leid, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe«, sagte sie.
Saekos Entschuldigung schien Kitazawa zu verwirren. »Findest du wirklich, ich sehe gut aus?«, griff er ihre Bemerkung wieder auf.
»Ja, wirklich.«
»Na ja, ich bin schon ganz schön alt geworden.«
»Sie sind sechzig geworden. Was erwarten Sie? Wissen Sie was, anstatt diese letzten kläglichen Haarsträhnen oben auf Ihrem Kopf zu behalten, warum rasieren Sie nicht einfach alles glatt? Ich glaube, das würde gut zu Ihrem Gangster-Look passen.«
Wenn Kitazawa die Straße hinunterging, mieden die Passanten entweder seinen Blick oder gingen ihm rasch aus dem Weg. Einfach alles an ihm wirkte aggressiv – seine Gestalt, die Frisur und seine ganze Ausstrahlung.
Als er seine erste Stelle bei einem bankfremden Darle hensgeber ergattert hatte, hatten sich seine Vorgesetzten seine einschüchternden Züge sogar zunutze gemacht, indem sie ihm einen regelrechten Gangsterjob gaben: Er sollte säumige Kreditnehmer aufspüren. Kitazawa hatte mit einem Partner zusammengearbeitet, Schuldner ausfindig gemacht, indem er sich geschickt umhörte, und gnadenlos Bargeld aus ihnen herausgepresst. Diese Erfahrung war die Grundlage für seine jetzigen Leistungen in Vermisstenangelegenheiten gewesen.
Als er die Hetzjagd auf die Schwachen leid gewesen war, hatte Kitazawa das Unternehmen verlassen und eine Stelle in einem Maklerbüro angenommen, wo er
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