Der Graben: Thriller (German Edition)
eine gefährliche Menge, die in der Geschichte der Mathematik lange als häretisches Konzept angesehen wurde. Sie unterschied sich von jeder anderen rationalen oder irrationalen Zahl, und es konnte einschneidende Konsequenzen nach sich ziehen, wenn man nicht vorsichtig genug mit ihr umging. Eine Zahl durch null zu teilen führte zu einer unendlichen Singularität, einer unmöglichen Rechnung. Die Null konnte sich leicht verheerend auf die geordnete Struktur der Mathematik auswirken und alles andere gierig verschlingen. Aus diesem Grunde wurde sie von der christlichen Welt des Mittelalters gefürchtet wie der Teufel. Es gab ein Phänomen im Universum, das die Magie der Zwillingskonzepte Null und Unendlichkeit in sich vereinte: ein Schwarzes Loch.
Plötzlich kam Saeko auf ein altbekanntes Gegensatzpaar, das ihr eigentlich schon als Schülerin hätte einfallen müssen.
Gott und Teufel.
Es hieß, dass der Teufel ursprünglich ein gefallener Engel sei, und Saeko begriff, dass dies so ähnlich war wie das Entstehen der Männchen aus den Weibchen, wie ihr Vater es erklärt hatte. Der Mechanismus, durch den ein gefallener Engel zum Teufel wurde, glich der Art und Weise, wie Männchen sich aus den Weibchen entwickelten. Beide waren ursprünglich aus ihrem Gegenstück entstanden.
Vielleicht konnte man das Gleiche über das Verhältnis zwischen Null und Unendlichkeit sagen. Das Universum mit seinen unendlich vielen funkelnden Sternen sollte vor nur 14 Milliarden Jahren aus dem Nichts entstanden sein. Auch in diesem Fall hatte sich eine Sache gegabelt, um gegensätzliche Konzepte hervorzubringen.
Gott und Teufel, Null und Unendlichkeit… Gott ließ den Teufel entstehen, Null ließ die Unendlichkeit entstehen. Mehr noch, von der Zahl Null hieß es, sie enthalte unendliche Energie. Schwarze Löcher verschluckten alle Materie, nicht einmal das Licht ließen sie entkommen.
Was wollte er mir sagen?
Wenn die Nachricht ihres Vaters irgendetwas mit seinem Verschwinden zu tun hatte, war sie entschlossen, das Rätsel zu lösen.
Ein Ziel vor Augen zu haben gab Saeko die Energie zum Weiterleben. Es war aufregend, ihren Verstand zu gebrauchen und in ihren Gedanken vorwärtszudrängen. Doch allein musste sie zwangsläufig an ihre Grenzen stoßen. Sie brauchte jemanden, der ihr ein objektives Feedback zu ihren Ideen geben konnte, damit ihre Gedanken konkretere Formen annahmen.
Zwei Gesichter, Vater und Sohn, kamen Saeko in den Sinn. Sie hatte Kitazawa seit Jahren nicht mehr gesehen, doch nun schien er ihren Namen zu rufen.
7
Saeko wollte Hideaki Kitazawa am nächsten Morgen anrufen und ihn am Nachmittag in seinem Büro aufsuchen, doch sie war nicht schnell genug – die Chefredakteurin Maezono kam ihr zuvor und bestellte sie zu einer Besprechung ein. Als Saeko wie gewünscht im Verlag erschien, bot Maezono ihr einen weiteren Auftrag an.
Saekos Artikel über die verschwundene Familie Fujimura hatte so große Beachtung gefunden, dass der Verlag nun regelmäßig monatlich ähnliche Berichte über aktuelle Vermisstenfälle bringen wollte. Ohne Saeko die Möglichkeit zu geben abzulehnen, überreichte Maezono ihr eine Akte mit detaillierten Informationen über zwei junge Männer, die nacheinander aus der Stadt Itoigawa verschwunden waren.
»Bitte. Sie sind die Einzige, die das machen kann«, bat Maezono. Als sie dann noch verkündete, dass die Artikel am Ende der Serie als Sammlung in Buchform erscheinen würden, konnte Saeko nicht nein sagen. Ein Buch bei einem namhaften Verlag zu veröffentlichen war derzeit ihr oberstes berufliches Ziel.
Obwohl es bei den jungen Männern ebenfalls um Vermisstenfälle ging, unterschieden sie sich von der Fujimura-Geschichte insofern, als sie einzeln verschwunden waren. Beide waren etwa zwanzig Jahre alt. Es war noch reichlich Zeit bis zum Redaktionsschluss, doch Saeko musste sich überlegen, wo sie bei ihren Ermittlungen ansetzen wollte.
Folgendes war über die beiden Vermissten bekannt:
Tomoaki Nishimura, 20 Jahre alt. Angestellter in einem kleinen Supermarkt. Zuletzt gesehen am 13. September 2011.
Während der Arbeit in einer S-Mart-Filiale in der Nähe der Mündung des Himekawa-Flusses in Itoigawa verschwand Nishimura plötzlich, etwa gegen 18.30 Uhr. Der Erste, der seine Abwesenheit bemerkte, war der Filialleiter des Ladens. Dieser war gerade dabei, einige Kisten ins Lager zu transportieren, als Itoigawa von einem Erdbeben der Stärke 4 auf der japanischen Skala erschüttert wurde. Der
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