Der Graben: Thriller (German Edition)
Saekos Bericht, ihrer Entschlossenheit, ihren Vater zu finden, und den Aussagen von Freunden und Bekannten des Vaters war Kitazawa davon überzeugt, dass Saeko für Shinichiro alles bedeutet hatte und dass der Mann nicht im Traum daran gedacht hätte, sie im Stich zu lassen. Je klarer wurde, dass Shinichiro keinen Grund hatte zu verschwinden, desto wahrscheinlicher schien es, dass ihm etwas zugestoßen war und nur noch seine Leiche gefunden werden musste. Kitazawa wusste, dass diese Möglichkeit für Saeko inakzeptabel war, doch er konnte an nichts anderes glauben.
Als er Saeko vor achtzehn Jahren mitgeteilt hatte, dass er die Suche einstellen werde, war sie fuchsteufelswild geworden.
»Er lebt!«, hatte sie ihn zornig angeschrien. »Ich kann seinen Puls spüren! Vielleicht hat er das Gedächtnis verloren. Vielleicht ist er irgendwo da draußen und weiß nicht, wo sein Zuhause ist…«
Natürlich hatte Kitazawa diese Möglichkeit bedacht. Er hatte in Krankenhäusern und bei der Polizei nachgeforscht, doch es hatte keine passenden Personenbeschreibungen gegeben. Kitazawa schüttelte langsam den Kopf.
»Na schön«, hatte Saeko erklärt. »Ich verlange nicht, dass Sie ihn weiter suchen. Sie können mir stattdessen beibringen, wie man so etwas macht. Von heute an will ich Ihre Auszubildende sein.«
Und tatsächlich hatte sie nicht locker gelassen, bis Kitazawa schließlich nachgegeben hatte. Doch wie konnte er Detektivarbeit verrichten, wenn er ständig ein junges Mädchen im Schlepptau hatte? Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Freizeit zu opfern, um Saeko die Grundlagen beizubringen, und dabei war ein starkes Band zwischen ihnen entstanden. Dadurch war in Kitazawa auch die Idee aufgekeimt, eine Detektivschule zu gründen, ein Projekt, mit dem er später ziemlich erfolgreich war. Und Saeko hatte ihren detektivischen Spürsinn auf ihre journalistische Laufbahn übertragen. Man konnte eben nie wissen, wohin eine Begegnung einen im Leben noch führte.
Kitazawa balancierte die Akte, die Saeko ihm überreicht hatte, auf den Knien und lächelte süßsauer, während er an seinem Tee nippte, von dem man angeblich abnehmen sollte. Seine Frau hatte ihn vor zehn Jahren dazu gebracht, doch bisher schien das Zeug nicht zu wirken.
Saeko war jetzt fünfunddreißig Jahre alt und hatte eine Hochzeit und eine Scheidung hinter sich. Doch war sie jemals über den Tod ihres Vaters hinweggekommen?, fragte sich Kitazawa. Selbst wenn es die Idee ihrer Redakteurin war – allein die Tatsache, dass Saeko nach all der Zeit immer noch mit einer Vermisstenakte unter dem Arm herumlief, ließ ihn vermuten, dass sie im Fall ihres Vaters niemals wirklich die Hoffnung aufgegeben hatte, und diese Erkenntnis schmerzte ihn.
Saeko merkte nichts von Kitazawas Besorgnis und warf zaghaft einen Blick über die Schulter. »Übrigens, ist Toshiya da?«
»Natürlich. Er kann es gar nicht erwarten, dich zu sehen!« Kitazawa drückte eine Taste der Gegensprechanlage. »Saeko ist da!«
Sofort flog die Tür auf, und ein jüngerer Mann eilte herein. Er war Kitazawa wie aus dem Gesicht geschnitten, doch seine Gestalt war um eine Nummer kleiner, und er hatte eine vollkommen andere Ausstrahlung.
»S ensei! Lange nicht gesehen!« Atemlos begrüßte Toshiya Saeko und grinste dabei von einem Ohr zum anderen. Doch als ihre Blicke sich trafen, schaute er verlegen weg, und seine Augen sahen ins Leere.
»Es ist wirklich lange her, Toshiya. Du hast abgenommen, oder?« Kitazawas einziges Kind, Toshiya, war sechs Jahre jünger als Saeko. Mit neunundzwanzig Jahren strahlte sein ganzes Wesen immer noch die Kindlichkeit derjenigen aus, die vor der Realität fliehen. Seit Chiekos Beerdigung hatte Saeko ihn nicht mehr gesehen, doch Kitazawa hatte sie am Telefon auf den neuesten Stand gebracht, was Toshiya in letzter Zeit so gemacht hatte.
Vor Saekos innerem Auge blitzte ein Bild von Toshiyas Penis auf, der, halb von der Vorhaut verdeckt, schlaff wurde wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht – dass Toshiya ihrem Blick auswich, war ein eindeutiger Hinweis darauf, dass er gerade das gleiche Bild vor Augen hatte. Saeko trat einen halben Schritt zurück und wandte ebenfalls den Blick ab, um Toshiya nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
Saeko, Kitazawa und Toshiya. Die drei waren durch Schüler-Lehrer-Beziehungen verbunden gewesen. Kitazawa hatte Saeko die Grundlagen des Aufspürens von Personen beigebracht, und Saeko hatte Toshiya Nachhilfeunterricht
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