Der Graben: Thriller (German Edition)
an dem Büro »Man Search« – Personensuche. Das Schild war jedoch ein anderes als bei ihrem letzten Besuch.
Mit siebzehn Jahren hatte eine verzweifelte Saeko an demselben Gebäude emporgeblickt.
Immer wenn ihr Vater auf Geschäftsreise war, rief er um acht Uhr abends zu Hause an. Am 21. August 1994 hatte er sich nach seiner Rückkehr aus Bolivien von seinem Hotel in Narita aus gemeldet und ihr mitgeteilt, dass er am nächsten Tag nach Takamatsu auf Shikoku weiterfahren wollte. Doch am nächsten Abend um acht Uhr kam kein Anruf. Soweit Saeko sich erinnerte, hatte ihr Vater es noch nie versäumt anzurufen, wenn er unterwegs war. Selbst vom anderen Ende der Welt meldete er sich immer pünktlich abends um acht japanischer Zeit.Wo er auch hinging, sorgte er sich um das Wohlergehen seiner einzigen Tochter, und der abendliche Anruf um acht schien ihm ein zwingendes Bedürfnis zu sein.
Daher war Saeko am Abend des 22. August auch so irritiert, als ihr Vater nicht anrief, obwohl er wieder in Japan war. Als sie auch am nächsten und übernächsten Abend nichts von ihm hörte, ging sie zur Polizei und zeigte an, dass ihrem Vater etwas zugestoßen sei. Natürlich machte die Polizei keinerlei Anstalten, etwas zu unternehmen, nur weil ein Reisender sich nicht zu Hause gemeldet hatte. Die Beamten erklärten, es sei noch zu früh, um Ermittlungen einzuleiten, und schlugen vor, Saeko solle Geduld haben und noch ein wenig abwarten.
Da von der Polizei keine Hilfe zu erwarten war, blieb Saeko nichts anderes übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Sie war Hideaki Kitazawa noch nie zuvor begegnet. Sie hatte ihn im Telefonbuch unter den Einträgen der Detektivbüros gefunden. Eine Zeile in seiner visitenkartengroßen Anzeige lautete »Vermisstenangelegenheiten«. Es wurden zahlreiche andere Detekteien aufgeführt, doch alle schienen auf Überprüfungen des Strafregisters und der Finanzen oder auf Ermittlungen wegen Untreue spezialisiert zu sein. Saeko kam zu dem Schluss, dass Detektiv Kitazawa von »Man Search« der Einzige war, der ihr helfen konnte, und sie beschloss, das Detektivbüro direkt aufzusuchen, ohne erst telefonisch einen Termin zu vereinbaren.
Doch als sie sich der angegebenen Adresse näherte und ringsum nur zwielichtige Unternehmen entdeckte, in denen zweifelhafte Typen als Schuldeneintreiber fungierten, bekam sie weiche Knie. Würde das Detektivbüro ein so junges Mädchen ohne Begleitung überhaupt ernst nehmen? Falls nicht, konnte man sie bestenfalls fortschicken, aber was, wenn sie übervorteilt wurde? Sie fand das gesuchte Gebäude, vergewisserte sich, dass die Adresse mit der auf ihrem Notizzettel übereinstimmte, und fuhr mit dem Lift in den dritten Stock hinauf. Oben angekommen konnte sie sich allerdings nicht dazu überwinden, die Tür zum Büro zu öffnen.
Als die Fahrstuhltüren sich hinter ihr schlossen, bekam sie einen Schweißausbruch, und ihr T-Shirt fühlte sich klamm an. Auf dem kurzen Fußweg von der U-Bahn war sie beinahe zu nervös gewesen, um zu schwitzen, doch plötzlich lief der Schweiß nur so an ihr herunter.
In der Tasche, die sie fest an die Brust drückte, befand sich ein Ordner mit den Kontoauszügen ihres Vaters. Sie hatte keine Ahnung, wie viel es kosten würde, einen Detektiv zu engagieren, um ihren Vater zu finden. Selbst wenn sie ihr zu viel berechnen sollten, Saeko war bereit, jede beliebige Summe zu zahlen. Es war ihr sinnvoll erschienen, die Kontounterlagen ihres Vaters mitzubringen. Jetzt wurde ihr allerdings klar, was für eine leichte Beute sie dadurch in den Augen der falschen Person darstellen würde.
Auf der Tür direkt vor dem ängstlichen jungen Mädchen stand »Man Search« – das Büro lag genau gegenüber dem Aufzug. Die Holztür mit den Milchglasscheiben war Saeko keine Hilfe bei ihrer Entscheidung, ob sie eintreten oder heimgehen sollte. Sie ging näher heran und legte ein Ohr an die Tür. Der bloße Klang einer Stimme konnte ihr vielleicht verraten, was für Leute sie dort drinnen erwarten würden. Doch gerade als ihre Wange die Tür berührte, schwang diese auf.
»Oh!«, entfuhr es Saeko. Im nächsten Moment erblickte sie eine Frau, die an einem Schreibtisch saß und in ein Buch vertieft war. Die Anwesenheit einer Frau war ihr eine große Erleichterung.
»Hallo«, brachte Saeko in ganz normalem Ton heraus.
Die zierliche Frau mittleren Alters hob den Blick von ihrem Buch und strahlte. Ihr Lächeln war so warm, dass es beinahe schien, als hätte
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