Der Graben: Thriller (German Edition)
konnte es auch eine leichte nervöse Störung sein. Nicht nur ihre Fingerspitzen, auch das Kinn zitterte leicht. Im Fernsehen wirkte die Hellseherin viel energischer; in Wirklichkeit war sie so klein und unsicher.
Saeko passte es gar nicht, auf der ganzen Fahrt nach Ina neben dieser Frau zu sitzen. Sie konnte sich nicht entspannen; die Alte verursachte ihr eine Gänsehaut. Es war, als strahlte Shigeko Toriis ganzer Körper eine eigentümliche Energie aus.
Saeko fragte sich, ob der Regieassistent ihr absichtlich eine Fahrkarte für die Businessclass besorgt hatte. Wenn ein Fernsehteam mit dem Zug an einen Drehort reiste, fuhr normalerweise der Hauptdarsteller in der Businessclass, der Rest des Teams jedoch Economy. Als Mitarbeiterin an dem Projekt hätte Saeko daher logischerweise in der Economyclass reisen müssen, doch aus irgendeinem Grund hatte Sakai ihr einen Businessclass-Fahrschein gekauft. Vielleicht hatte Shigeko Torii ihn darum gebeten. Vielleicht wollte sie jemanden zum Reden haben, und Sakai hatte ihr Saeko als Menschenopfer dargebracht.
Torii hob den Blick von der Visitenkarte und schaute Saeko in die Augen, erst in das eine, dann in das andere. Sie atmete scharf durch die Nase aus, nahm ihre Tasche vom Boden und legte sie sich auf die Knie. »Es muss sehr schwer für Sie sein, so ganz allein.«
Es war eine kryptische Bemerkung, doch Saeko schnappte unwillkürlich nach Luft. Als hätte die Alte die Visitenkarte wie ein Fenster benutzt, um in ihr Herz zu sehen. Nagende Einsamkeit… Der Sommer vor achtzehn Jahren, in dem Saekos Leben sich für immer verändert hatte…
Oder hat sie nur zufällig richtig geraten?
Wie auch immer, Saeko gefiel es nicht, dass ihre Vergangenheit hervorgekramt wurde. Bei der Vorstellung, sich zwei Stunden unaufgefordert in den Gedanken lesen zu lassen, schauderte sie. Auch wenn sie von der Nacht erschöpft war, konnte sie schlecht ein Nickerchen machen und sich auf diese Weise einer Unterhaltung mit der alten Dame entziehen.
Saeko zögerte, unsicher, was sie antworten sollte. Unterdessen holte Torii einen Reisebecher mit Sake aus der Handtasche und öffnete den Deckel. Sie schlürfte vernehmlich, und der Duft des Sake erfüllte die Luft. Sofort hörten die Finger der Alten auf zu zittern. Es waren also doch Entzugserscheinungen.
»Möchten Sie?« Torii bot Saeko den Becher an, aus dem sie gerade getrunken hatte.
»Nein, danke. Ich trinke nicht.«
»Lügnerin«, versetzte Torii mit boshaftem Lächeln.
Sie hatte recht. Saeko trank. Für eine Frau vertrug sie sogar ziemlich viel. In letzter Zeit konnte sie abends ohne Drink nicht einschlafen.
Erneut wusste Saeko nicht, was sie sagen sollte, und sie merkte, wie ihr Körper sich verspannte. Sie wollte die Anspannung irgendwie lockern, hatte aber keine Ahnung, wie.
Als gute Journalistin hatte Saeko ihre Hausaufgaben zu Shigeko Torii gemacht, sobald sie erfahren hatte, dass die Hellseherin an dem Projekt beteiligt sein würde. Sie war 1944 geboren, also achtundsechzig, auch wenn Saeko sie auf über achtzig geschätzt hatte.
Mit fünfzig war Torii als Hellseherin bekannt geworden, ein Jahr, nachdem sie durch ein schmerzliches Ereignis ihre besonderen Kräfte erhalten hatte. Sie hatte den tragischen Unfalltod ihres einzigen Kindes an einem Bahnübergang miterlebt – eines Sohnes, den sie relativ spät, mit achtunddreißig Jahren, bekommen hatte.
Torii und ihr Sohn, der damals gerade zehn geworden war, waren mit dem Fahrrad an einem Bahnübergang im Einkaufsviertel ihres Wohnorts unterwegs. Gerade als sie die Gleise überquerten, ertönte das Signal und kündigte einen herannahenden Zug an. Torii war sich sicher, dass ihr Sohn ihr folgte, sie konnte ihn hinter sich auf seinem Fahrrad hören, berichtete sie später. Doch als der Junge versuchte, den Anschluss an seine Mutter nicht zu verlieren, rutschte einer seiner Reifen auf den Schienen weg, und er fiel vom Rad.
Als Torii merkte, dass niemand mehr hinter ihr war, kehrte sie zu den Gleisen zurück. In diesem Augenblick raste ein roter Zug vorbei. Direkt vor ihren Augen wurden ihrem Jungen alle vier Gliedmaßen vom Körper gerissen und durch die Luft geschleudert. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, als sie mit ansehen musste, wie ihr Sohn starb.
Ein Zeuge gab später zu Protokoll, dass Toriis Schrei nicht menschlich gewesen sei. Aaaaahhh! Der durchdringende, gellende Schrei stieg zum Himmel empor und durchbohrte eine rasch dahinziehende Wolke.
Mit Schaum vor dem
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