Der Graben: Thriller (German Edition)
übertragen würde. Wenn man die Trauer eines anderen Menschen spürte, gehörte dazu normalerweise eine gewisse Distanz, sofern man die Haltung eines Beobachters einnahm, doch Saeko hatte einen ähnlichen Verlust erfahren. Das tiefe Leid, das durch Toriis Berührung übertragen wurde, löste in ihr lebhafte Erinnerungen an die Tragödie aus, die sie als Schülerin durchgemacht hatte. Es war beinahe genauso, wie sie es damals empfunden hatte.
Von ihren Gefühlen überwältigt krümmte Saeko sich zusammen und lehnte die Stirn an Toriis Arm. Mit geschlossenen Augen sehnte sie sich einfach nur danach, dass ihr Vater zurückkehrte. Das Bild, das sie vor sich sah, war das ihres Vaters mit vierundvierzig Jahren, genau wie er zur Zeit seines Verschwindens ausgesehen hatte.
Torii schien Saekos Gefühle vollkommen zu verstehen. Mit ihrer freien Hand strich sie ihr sanft über den Kopf und raunte leise: »Ist ja gut. Ich bin sicher, Sie werden diesen bestimmten Menschen finden.«
Falls Toriis Äußerung bedeutete, dass Saekos brennendster Wunsch der vergangenen achtzehn Jahre in Erfüllung gehen sollte, hörte sie das gern.
Auch wenn sie voller Tränen waren, hatte Saeko doch scharfe Augen. Sie bemerkte, dass Toriis Hände wieder zu zittern begonnen hatten. Das leichte Zucken in beiden Händen war heftiger als zuvor, sodass ihre Fingernägel gegen den Becherhalter der Armlehne schlugen. Der Rhythmus erinnerte Saeko an das Geräusch einer Maus, die an etwas Hartem knabberte.
10
In Chino stiegen sie aus dem Schnellzug nach Matsumoto. Während sie langsam durch die Sperre gingen, ließ Saeko den Blick über die Menge schweifen, doch bevor sie ihn erspäht hatte, rannte Hashiba schon auf sie zu.
»Vielen herzlichen Dank, dass Sie so weit gefahren sind.« Er verbeugte sich höflich vor Torii und schenkte Saeko ein ungezwungeneres Lächeln. »Sie müssen müde sein«, fügte er fürsorglich hinzu.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Saeko, dass Hashibas Ärmel bis zum Ellbogen aufgerollt waren und den Blick auf muskulöse Arme freigaben. Plötzlich verspürte sie immense Erleichterung. Noch nie war sie so froh gewesen, dass jemand gekommen war, um sie abzuholen.
Nach der Zugfahrt neben Torii fühlte Saeko sich völlig ausgelaugt. Nicht dass die alte Frau unfreundlich gewesen wäre. Die zweistündige Fahrt war mehr als lang genug gewesen, um Saeko zu zeigen, dass die Hellseherin ein großes Herz hatte. Doch in Gesellschaft von jemandem zu sein, der einem mitten in die Seele sehen konnte, war unglaublich anstrengend. In der Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, war Saeko klar geworden, dass Torii, solange sie über ihre übernatürlichen Kräfte verfügte, auf Dauer zur Einsamkeit verdammt war.
Saeko fiel auf, dass Hashiba die Koffer beider Frauen trug. Er hatte ihnen das schwere Gepäck mit solcher Selbstverständlichkeit abgenommen, dass sie es gar nicht bemerkt hatte.
Die Frauen sollten mit Hashiba im Van fahren, während Kagayama und die Übrigen einen eigenen Wagen nahmen, weil sie noch ein paar Dinge kaufen mussten.
Die beiden Frauen saßen nebeneinander in der zweiten Sitzreihe und wurden durch die scharfen Kurven der steilen Gebirgsstraße über den Tsuetsuki-Pass von einer Seite zur anderen geschleudert.
Als Saeko hergekommen war, um für ihren Artikel zu recherchieren, hatte sie die Iida-Linie zum Bahnhof Nord-Ina genommen und war von dort mit einem Mietwagen nach Takato gefahren. Es war damals Sommer gewesen, und die Berge hatten irgendwie anders gewirkt. An diesem Nachmittag im November, an dem es schon früher dunkel wurde, war die Luft trocken. Obwohl der Wetterbericht die bisher kältesten Temperaturen für dieses Jahr vorhergesagt hatte, brannte die Sonne fast heiß vom Himmel. Im Van war es so warm, dass man die Klimaanlage brauchte, doch wenn die Sonne unterging, würden die Temperaturen wahrscheinlich rasch fallen.
Als sie die Nationalstraße 152 verlassen hatten und den Berg zum Haus der Fujimuras hinauffuhren, fiel Saekos Blick auf eine vertraute Gestalt. Der Mann trug einen Jogginganzug und anstelle eines Schals ein Handtuch um den Hals. Er stand an der Seite, während die Kamera- und Tontechniker ihre Ausrüstung aufbauten. Als der Van sich näherte, verfolgte er ihn mit den Augen.
Seiji Fujimura, der ältere Bruder von Kota Fujimura, dem Besitzer des Anwesens. Saeko hatte mit ihm vereinbart, dass er ihr für diesen Tag den Schlüssel zum Haus der Fujimuras überließ.
Nun verspürte sie alles
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