Der Graben: Thriller (German Edition)
Mund war Torii auf dem Asphalt auf die Knie gesunken. Sie verlor das Bewusstsein und wurde ins Krankenhaus gebracht, wo sie drei Tage später erwachte.
Damals wurde Toriis Haar plötzlich weiß und fiel ihr in Büscheln aus. Außerdem begann sie, von morgens bis abends zu trinken.
Nach der Beerdigung beharrte Torii darauf, dass ihr Sohn noch in der Nähe sei, und weigerte sich zu akzeptieren, dass er tot war, ganz gleich, was ihre Familie sagte. Sie konnte se ine Stimme immer noch hören. Wenn alle anderen sie auch hören könnten, dann würden sie ihr glauben, dachte Torii. Sie konsultierte eine Itako vom Berg Osore. Itakos waren blinde Schamaninnen, von denen es hieß, sie könnten mit den Toten kommunizieren. Zu Toriis großer Überraschung teilte ihr die Itako bei ihrer Ankunft auf dem Berg Osore mit, dass sie selbst in den Besitz übernatürlicher Kräf te gelangt sei. Sie könne in die Vergangenheit eines Menschen schauen, und zwar durch bloßes Berühren eines Gegenstandes, der diesem gehöre.
Es dauerte nicht lange, bis sich ihre Fähigkeit herumgesprochen hatte. Ungläubig bat der Intendant eines Fernsehsenders Torii um ein Interview und brachte eine alte Brille mit. Torii berührte das Gestell, bevor sie drei Auskünfte über die Besitzerin gab.
Die Brille hatte einer älteren Frau gehört, die jetzt tot war. Die Frau hatte eine Arbeit ausgeübt, die mit dem No- oder Kyôgen-Theater zusammenhing. Sie war einmal wegen grauem Star operiert worden und hatte die Brille getragen, als sie starb.
Alle drei Aussagen stimmten haargenau. Die Brille hatte der verstorbenen Großmutter des Intendanten gehört, zu der er ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte. Vor einem Jahr hatte sie zu Hause in ihrem Badezimmer einen Herzanfall erlitten, und es war jede Hilfe zu spät gekommen. Sie starb im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus und trug bei ihrem Tod die Brille noch auf der Nase. Ihr Mann war Theaterkritiker, der über die traditionellen japanischen Theaterformen schrieb, und sie hatte häufig Vorstellungen mit ihm besucht und ihm beim Verfassen der Kritiken über No- oder Kyôgen-Aufführungen geholfen. Und zu guter Letzt war sie auch einmal wegen ihres grauen Stars operiert worden.
Die erste Aussage, dass die Besitzerin eine alte Frau war, die nicht mehr lebte, konnte ein Zufallstreffer aufgrund der altmodischen Form der Brille und ihrer konvexen Zweistärkengläser sein. Doch es war schwer zu erklären, wie Torii die anderen beiden Punkte erraten haben sollte, und so war der Intendant ziemlich überzeugt von ihren hellseherischen Fähigkeiten.
Diese Begegnung führte zu Toriis erstem Auftritt im Fernsehen, bei dem sie ähnlich akkurate Aussagen zum Besten gab. Es war eine Sendung mit Zuschauerbeteiligung, und Torii gab Auskunft über die Vergangenheit von Leuten aus dem Publikum, die ihr persönliche Gegenstände ausgehändigt hatten.
Am eklatantesten stieg ihr Ansehen, als sie detaillierte Angaben zum Täter in einem ungeklärten Mordfall machte. Aufgrund eines am Tatort gefundenen Hutes hatte Torii Beruf, Alter und Wohnsitz des Besitzers so genau beschrieben, dass der Mörder, der die Fernsehsendung zufällig anschaute, sich voller Angst der Polizei stellte.
Diese mysteriösen Kräfte schienen von dem psychischen Schock herzurühren, den Torii erlitten hatte, als sie den Tod ihres Sohnes miterleben musste.
Während die alte Frau ihren Sake schlürfte, schweifte ihr Blick abwesend über den Fußboden. Ihre Augenlider sanken herab, doch die raschen Bewegungen ihrer Pupillen verrieten rasches Denken trotz ihrer vermeintlichen Langsamkeit.
Während Saeko über Shigeko Toriis Vergangenheit nachdachte, empfand sie tiefes Mitgefühl mit der Frau, der so Schlimmes widerfahren war. Nach welchen Prinzipien funktionierte die menschliche Seele? Wie kam es, dass unerträglicher Kummer übernatürliche Fähigkeiten ins Leben rief? Hatten diese Fähigkeiten ihren Schmerz in irgendeiner Form gelindert? Führte Torii immer noch Gespräche mit dem Geis t ihres Sohnes?
Als ob sie Saekos Gedanken lesen könnte, wechselte Torii den Sakebecher in die linke Hand und legte die rechte leicht auf Saekos Hand. Ihre Haut war trocken und überraschend kühl.
»Es ist immer schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren.«
Als der Alkoholdunst Toriis Stimme an Saekos Ohr trug, spürte sie plötzlich die Traurigkeit der alten Frau über den Verlust ihres Sohnes am eigenen Leib, als ob sie durch den Kontakt ihrer Hände
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