Der Graben: Thriller (German Edition)
eine Schieflage in der Verteilung der Vermisstenfälle. Wie ich vermutet hatte, scheint der Ort des Verschwindens also von Bedeutung zu sein. Aber was um alles in der Welt kann der Grund für diese ungleiche Verteilung sein? Ich habe alle Möglichkeiten durchgespielt, die mir eingefallen sind – Einkommen, Arbeitslosenquote, Anteil der Eigenheimbesitzer –, aber nichts davon hat gepasst. Ich dachte, die Verteilung auf die Präfekturen zu überprüfen wäre vielleicht zu ungenau, also habe ich versucht, die Daten auf lokalerer Ebene zu analysieren, aber den maßgeblichen Faktor konnte ich immer noch nicht erkennen. Trotzdem war mir klar, dass es unter den Orten, an denen viele dieser Fälle aufgetreten sind, irgendeine Gemeinsamkeit geben musste. Die Verteilung war zu ungleichmäßig, als dass dies reiner Zufall sein konnte.«
»Und, haben Sie etwas herausgefunden?«, drängte Saeko.
»Hm, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll…«
»Machen Sie’s nicht so spannend! Na los, raus damit!«
»Geduld, Geduld. Ich bin selbst immer noch nicht sicher, ob ich es glauben soll oder nicht.«
»Jetzt spucken Sie’s schon aus, damit wir es zusammen besprechen können«, verlangte Saeko gereizt.
»Ist ja gut, ist ja gut!« Kitazawa wedelte mit den Händen, um Saeko zum Schweigen zu bringen. Dann holte er ein weiteres Dokument hervor und reichte Saeko und Hashiba jeweils eine Kopie. Es war eine Landkarte von Japan, die mit schwarzen Punkten übersät war. Saeko brauchte Kitazawas Erklärung nicht abzuwarten – sie konnte sich ziemlich genau vorstellen, was die Karte bedeutete. Dadurch, dass jeder schwarze Punkt auf der Karte einem Vermisstenfall entsprach, konnte man sich deren geografische Verteilung viel besser vorstellen. Saeko erkannte sofort, das die Punkte sich hauptsächlich auf die Mitte Japans konzentrierten. Sehr wenige lagen im Nordosten des Landes und ebenfalls wenige in Hokkaido. Doch das war nicht alles. Als sie die Karte genauer betrachtete, fiel Saeko ein noch seltsameres geografisches Muster auf. Die Gruppen von schwarzen Punkten bildeten eindeutig eine Form.
Ein Kreuz!
Die Erkenntnis kam Saeko blitzartig. Eigentlich sah es eher aus wie ein auf der Seite liegendes T als wie ein Kreuz. Wo die beiden Linien sich überschnitten, befand sich ein dunkler Haufen schwarzer Punkte.
Die Vermisstenfälle konzentrierten sich auf zwei Streifen, und diese Streifen kreuzten sich mitten im japanischen Archipel, wie ein T. Der leicht gekrümmte, vertikale Streifen verlief mitten durchs Land. Der horizontale Streifen durchschnitt den vertikalen, beschrieb eine Kurve durch Shizuoka und den Süden von Aichi, über die Ise-Bucht und die Kii-Halbinsel, um dann durch den Norden Shikokus und mitten durch Kyushu zu verlaufen.
Saeko schaute Kitazawa ins Gesicht und fragte sich, was er dachte.
Natürlich hatten alle drei bemerkt, dass die Vermisstenfälle sich entlang einer geschwungenen, nicht ganz akkuraten T-Form ereignet hatten. Die Frage war, warum. Warum um alles in der Welt sollte so ein geografisches Muster dabei herauskommen?
Die erste Assoziation, die Saeko spontan in den Sinn kam, waren die Geoglyphen in der Nazca-Wüste in Peru, auch bekannt als die Nazca-Linien. Diese berühmten Motive entstanden durch Wegscharren der obersten Bodenschicht in einer Tiefe von bis zu zehn Zentimetern. Viele stellten Tierfiguren dar, beispielsweise einen Affen, einen Wal, einen Kolibri, einen Kondor oder eine Spinne, manche auch geometrische Formen wie Dreiecke, Vierecke und Spiralen. Ihre Größe variierte von ein paar Dutzend bis zu mehreren Hundert Metern in der Länge; das größte Bild erstreckte sich über fünfzig Kilometer.
Die Nazca-Linien wurden in den 1920er Jahren entdeckt, als die ersten Flugzeuge über das Gebiet flogen. Die Bilder, die sich über fünfzig Kilometer erstreckten, ließen sich nach dem Aufkommen von Satelliten besser beobachten.
Auch wenn niemand genau sagen konnte, wann die Figuren geschaffen wurden, glaubte man, sie stammten aus der Zeit der Nazca-Kultur vor über 1.400 Jahren. Obwohl die Scharrbilder die Jahrhunderte überdauerten, waren sie so groß, dass die einheimische Bevölkerung sie nicht bemerkte.
Warum um alles in der Welt hatten die Nazca Bilder erschaffen, die man überhaupt nicht betrachten konnte, außer von sehr hoch oben?
Es gab unzählige Theorien, in denen die Geoglyphen als Naturverehrung, Aufzeichnungen zu Grundwasserströmungen, religiös-zeremonielle Straßen, astronomischer
Weitere Kostenlose Bücher