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Der Graben: Thriller (German Edition)

Der Graben: Thriller (German Edition)

Titel: Der Graben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kôji Suzuki
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Lehrerin über ihr Handy immer noch nicht zu erreichen war, beschloss Mary, die Polizei anzurufen und eine Suche zu veranlassen. Mittlerweile war es zehn nach neun.
    Als die Gruppe um Mitternacht noch nicht zurück war, intensivierte die Polizei ihre Suche. Leider wusste niemand, wohin die Gruppe zum Malen fahren wollte, und erst kurz vor Tagesanbruch wurden vier verlassene Staffeleien am südlichen Ufer des Lake Merced gefunden.
    Auf die Benachrichtigung durch die Polizei eilte Mary sofort dorthin. Die vier Staffeleien standen am Ufer, als warteten sie darauf, dass der Morgennebel sich lichtete. Als die ersten Strahlen der Morgensonne auf sie fielen, warfen sie lange Schatten, die bis an die Uferlinie reichten. Es war windstill wie am Vortag, und die Oberfläche des Sees war ganz glatt. Durch ihre rautenförmige Aufstellung sahen die vier Staffeleien aus wie Grabsteine.
    Die Namen auf den Paletten am Fuß jeder Staffelei ließen keinen Zweifel daran, dass die vier Gemälde der Lehrerin und den Schülerinnen der Richmond Junior Highschool gehörten.
    Jetzt war Mary sich ganz sicher, dass ihrer Tochter etwas Schreckliches zugestoßen war.
    Es war ein merkwürdiger Anblick. Auf jeder Staffelei befand sich ein Gemälde mit nahezu identischer Bildkomposition. Als das Morgenlicht die Bilder langsam erhellte, hatte Mary fast das Gefühl, sie könne Christine, die Lehrerin und die beiden anderen Mädchen vor den taufeuchten Staffeleien stehen sehen.
    Die junge Lehrerin und die Teenager hatten an der gleichen Stelle gestanden und das gleiche Motiv auf fast genau die gleiche Art und Weise gemalt.
    Sie hatten einen auf der Stelle stehenden Windsurfer mit ins Bild genommen, um zu betonen, wie still der See dalag, und hatten mit Licht und Schatten das kräftige Herbstlicht wiedergegeben. Vielleicht hatten alle vier zu Übungszwecken das gleiche Motiv gemalt. Möglicherweise hatte die Lehrerin die Mädchen dazu aufgefordert, damit sie die feinen Unterschiede im Malstil jedes Mädchens besser beurteilen konnte.
    Es war keine Überraschung, dass das Gemälde der Lehrerin von ganz anderem Kaliber war, raffinierter, in einem Stil, der über Fotorealismus hinausging. Die Zweige, die den See umrahmten, waren beinahe symmetrisch arrangiert, und der Windsurfer prangte überlebensgroß in der Bildmitte. Die Luft zwischen den Blättern der Bäume schien vollkommen reglos zu sein.
    Und doch war da auch eine eigenartige Anspannung, als ob jeden Moment etwas aus dem Bild hervorbrechen könnte, das darin gefangen war. Im Vordergrund wirkte das Ufer des Sees verzerrt und nicht in normaler Perspektive dargestellt. Es war nicht klar, was durch die unnatürlichen Wellenformen vermittelt werden sollte. Der See war still und glasklar, aber spannungsgeladen, als ob jeden Moment ein unbekanntes Wesen aus der Tiefe aufsteigen und durch die Wasseroberfläche brechen könnte.
    Aus einigem Abstand betrachtet, wirkte die Landschaft wie ein Gesicht. Die herabhängenden Äste der Bäume sahen aus wie Augen, das Surfbrett wie eine Nase, die Uferlinie wie ein Mund. Der Gesichtsausdruck wirkte vordergründig heiter, bei näherem Hinsehen jedoch bedrohlich, als ob direkt unter der Oberfläche die Wut lauerte. Die Grenze zwischen den gegensätzlichen Kräften der Ruhe und der Bewegung war hauchdünn, sodass das Bild auf den Betrachter unheimlich wirkte.
    Die drei Schülerinnen schienen von der Lehrerin abgemalt zu haben. Vielleicht hatten sie auch unbewusst deren Stil imitiert. Dennoch hatten sie ihr Bestes gegeben, um die Landschaft naturgetreu wiederzugeben, sodass ein seltsamer Stilmix entstand, der weder fotorealistisch noch abstrakt war. Nur Christines Bild unterschied sich in einem Detail von den anderen: Sie hatte das Gesicht des Surfers im Vordergrund des Sees geschwärzt. Der Windsurfer war zu dicht ans Ufer geraten und hatte nun Schwierigkeiten, wieder auf den See hinauszusurfen. Offenbar war er Anfänger und beherrschte den Sport noch nicht. Sein Segel hing schlaff herab und flatterte nutzlos hin und her, und er schien nicht zu wissen, was er als Nächstes tun sollte. Die Kunstlehrerin hatte seine klägliche Haltung und Mimik beim Warten auf den nächsten Windstoß bemerkenswert gut getroffen.
    Christine dagegen hatte das Gesicht des jungen Surfers so schwarz gemalt wie seinen Neoprenanzug. Auf den ersten Blick wirkte es, als hätte sie vielleicht seine Silhouette vor der Nachmittagssonne darstellen wollen, doch das war es nicht. Ihr Surfer war kleiner

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