Der Graf von Monte Christo 1
aber seine Tür war verschlossen, und er antwortete nicht, obgleich ich sicher war, daß er zu Hause war. Eines Tages, als er gegen seine Gewohnheit Mercedes empfangen hatte und das arme, selbst verzweifelte Kind ihn zu trösten versuchte, sagte er: ›Glaube mir, meine Tochter, er ist tot, und statt daß wir ihn erwarten, erwartet er uns; ich bin der älteste und werde also so glücklich sein, ihn zuerst wiederzusehen.‹
Nun, sehen Sie, so gut man auch ist, man hört bald auf, Leute zu besuchen, die einen traurig stimmen. Der alte Dantès blieb schließlich ganz allein; ich sah nur gelegentlich fremde Leute mit einem Paket von ihm herunterkommen. Ich habe nachher begrif-fen, was diese Pakete enthielten: Er verkaufte nach und nach, was er zum Leben besaß. Endlich schuldete er die Miete für drei Monate; man drohte, ihn auf die Straße zu setzen; er bat noch um acht Tage Aufschub, die ihm bewilligt wurden. Ich erfuhr dies von dem Eigentümer, der auf dem Rückweg bei mir vorsprach.
In den ersten drei Tagen hörte ich ihn noch wie gewöhnlich auf und ab gehen; am vierten aber hörte ich nichts mehr und wagte mich hinauf. Die Tür war verschlossen, aber durchs Schlüsselloch sah ich ihn so bleich und entstellt, daß ich ihn für sehr krank hielt und zu Herrn Morrel schickte und Mercedes holte. Beide kamen sofort, und Herr Morrel brachte einen Arzt mit; der Arzt stellte eine Magen- und Darmentzündung fest und verordnete Diät. Ich war zugegen, Herr, und vergesse nie das Lächeln des Alten bei dieser Verordnung.
Von jetzt ab schloß er sich nicht mehr ein; er hatte einen Vorwand, nicht mehr zu essen, der Arzt hatte ihm ja Diät verordnet.«
Der Abbé ließ eine Art Stöhnen hören.
»Die Geschichte interessiert Sie, Herr, nicht wahr?« fragte Caderousse.
»Ja«, antwortete der Abbé, »sie ist ergreifend.«
»Mercedes kam wieder und fand ihn so verändert, daß sie ihn wie das erstemal nach ihrer Wohnung schaff en lassen wollte. Das war auch die Meinung des Herrn Morrel, der den Transport mit Gewalt durchsetzen wollte; aber der Alte schrie so laut, daß sie Angst bekamen. Mercedes blieb bei dem Kranken; Herr Morrel machte ihr beim Gehen ein Zeichen, daß er eine Börse auf dem Kamin zurückgelassen habe. Aber der Alte berief sich auf die Vorschrift des Arztes und wollte nichts nehmen. Nach neun Tagen der Verzweifl ung und des Fastens gab der Alte endlich seinen Geist auf. Er verwünschte die Menschen, die sein Unglück verursacht hatten, und sagte zu Mercedes:
›Wenn du meinen Edmund wiedersiehst, so sage ihm, daß ich ihn sterbend segne!‹«
Der Abbé stand auf und ging mehrere Male durchs Zimmer, wobei er mit der Hand an seine ausgedörrte Kehle faßte.
»Und Sie glauben, daß er …«
»Vor Hunger gestorben ist … vor Hunger«, antwortete Caderousse;
»das ist so sicher, wie wir beide Christen sind.«
Der Abbé ergriff krampfhaft das noch halbvolle Glas Wasser, leerte es auf einen Zug und setzte sich wieder; seine Augen waren rot, seine Wangen bleich.
»Das war ein großes Unglück«, sagte er mit heiserer Stimme.
»Ein um so größeres, als Gott dabei gar keine Rolle spielt und die Menschen allein die Ursache sind.«
»Also, jetzt zu diesen Menschen«, sagte der Abbé; »aber denken Sie daran«, fuhr er mit fast drohender Miene fort, »daß Sie sich verpfl ichtet haben, mir alles zu sagen. Lassen Sie sehen, wer diese Menschen sind, die den Sohn vor Verzweifl ung und den Vater vor Hunger haben sterben lassen.«
»Zwei auf ihn Eifersüchtige, Herr, der eine infolge von Liebe, der andere infolge von Ehrgeiz: Ferdinand und Danglars.«
»Wie zeigte sich ihre Eifersucht?«
»Sie zeigten Edmund als bonapartistischen Agenten an.«
»Aber wer von beiden zeigte ihn an, wer war der eigentliche Schuldige?«
»Alle beide, Herr, der eine schrieb den Brief, der andere gab ihn auf die Post.«
»Und wo wurde dieser Brief geschrieben?«
»In der ›Réserve‹, am Tag vor der Hochzeit.«
»O Faria, Faria, wie du die Menschen und Dinge kanntest!« murmelte der Abbé.
»Wie meinen Sie?« fragte Caderousse.
»Nichts«, entgegnete der Priester, »fahren Sie fort.«
»Danglars schrieb den Brief mit der linken Hand, damit seine Handschrift nicht erkannt würde, und Ferdinand schickte ihn ab.«
»Aber Sie waren dabei?« rief plötzlich der Abbé.
»Ich?« sagte Caderousse erstaunt. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
Der Abbé sah, daß er zu weit gegangen war.
»Niemand«, antwortete er, »aber da Sie alle
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