Der Graf von Monte Christo 1
Einzelheiten so genau wissen, müssen Sie doch ihr Zeuge gewesen sein.«
»Das ist wahr«, sagte Caderousse mit erstickter Stimme, »ich war dabei.«
»Und Sie haben sich dieser Schändlichkeit nicht widersetzt?« rief der Abbé. »Dann sind Sie ja ihr Spießgeselle.«
»Herr Abbé«, entgegnete Caderousse, »beide hatten mich so viel trinken lassen, daß ich beinahe den Verstand verloren hatte und nur noch wie durch eine Wolke sah. Ich sagte alles, was man in solchem Zustand sagen kann; aber beide antworteten, daß es nur ein Scherz wäre und daß dieser Scherz weiter keine Folgen haben würde.«
»Am nächsten Morgen sahen Sie doch, daß er welche hatte, aber Sie sagten nichts; Sie waren ja doch zugegen, als er verhaftet wurde.«
»Jawohl, Herr, ich war da und wollte sprechen und alles sagen, aber Danglars hielt mich zurück.
›Und wenn er nun zufällig schuldig ist‹, sagte er zu mir, ›wenn er wirklich an der Insel Elba angelegt hat und beauftragt war, einen Brief an das bonapartistische Komitee in Paris zu besorgen, wenn man diesen Brief bei ihm fi ndet, so werden diejenigen, die ihn unterstützt haben, als mitschuldig gelten.‹
Ich muß sagen, ich hatte Furcht vor der Politik, wie sie damals war, und schwieg. Es war Feigheit, das gebe ich zu, aber es war kein Verbrechen.«
»Ich verstehe; Sie ließen eben nur die anderen gewähren.«
»Ja«, entgegnete Caderousse, »und darüber mache ich mir Tag und Nacht Gewissensbisse. Ich bitte Gott oft um Vergebung, das schwöre ich Ihnen, besonders, da diese Handlung, die einzige, die ich mir ernstlich vorzuwerfen habe, jedenfalls an meinem Unglück schuld ist. Ich büße für einen Augenblick der Selbstsucht; ich sage auch immer zu meiner Frau, wenn sie klagt: Schweig, Weib, Gott will es so!«
Und Caderousse ließ mit allen Zeichen einer wahren Reue den Kopf sinken.
»Nun«, sagte der Abbé, »Sie haben freimütig gesprochen; sich so anzuklagen heißt Vergebung verdienen. – Übrigens wußte er es nicht«, fuhr der Abbé fort.
»Aber er weiß es jetzt vielleicht«, fi el Caderousse ein, »man sagt ja, daß die Toten alles wissen.«
Es entstand ein Augenblick des Schweigens; der Abbé war aufgestanden und ging gedankenversunken im Zimmer umher, dann setzte er sich wieder.
»Sie haben mir schon einige Male einen gewissen Herrn Morrel genannt«, sagte er. »Wer war das?«
»Der Reeder des ›Pharao‹, der Patron Dantès’.«
»Und welche Rolle hat dieser Mann in der ganzen traurigen Geschichte gespielt?« fragte der Abbé.
»Die Rolle eines ehrlichen, mutigen Mannes von Herz. Zwanzigmal hat er sich für Edmund verwandt; als der Kaiser zurückkam, schickte er Gesuche ein, bat und drohte, so daß er bei der zweiten Restauration als Bonapartist stark verfolgt wurde. Zehnmal war er, wie ich Ihnen erzählt habe, bei Dantès’ Vater und wollte ihn aus dem Hause nehmen, und einen oder zwei Tage vor dem Tode des Alten ließ er, wie gesagt, eine Börse auf dem Kamin zurück, von deren Inhalt man die Schulden des Alten und das Begräbnis bestritt, so daß der arme Greis wenigstens sterben konnte, wie er gelebt hatte, ohne jemand unrecht zu tun. Ich habe diese Börse noch.«
»Und lebt dieser Herr Morrel noch?« fragte der Abbé.
»Ja«, antwortete Caderousse.
»Dann ist er jedenfalls ein von Gott gesegneter Mann und reich und glücklich?«
Caderousse lächelte bitter.
»Ja, glücklich wie ich«, antwortete er.
»Herr Morrel wäre unglücklich?« rief der Abbé.
»Er steht vor dem Elend, ja noch mehr, vor dem Ehrverlust.«
»Wieso?«
»Die Sache liegt so«, fuhr Caderousse fort, »nach fünfundzwanzigjähriger Arbeit, nachdem er sich die geachtetste Stellung in den Marseiller Geschäftskreisen erworben hat, ist er gänzlich ruiniert. Er hat in zwei Jahren fünf Schiff e verloren, ist von drei schrecklichen Bankrotten betroff en worden und hat nur noch die eine Hoff nung auf diesen selben ›Pharao‹, den der arme Dantès befehligte und der mit einer Ladung Cochenille und Indigo von Indien zurückkommen muß. Wenn das Schiff ihn wie die übrigen im Stich läßt, so ist er verloren.«
»Hat der Unglückliche Frau und Kinder?« fragte der Abbé.
»Ja, er hat eine Frau, die sich bei alledem wie eine Heilige be-nimmt; er hat eine Tochter, die einen Mann, den sie liebte, heiraten sollte, dessen Familie jetzt aber die Heirat mit einem Mädchen aus verarmter Familie nicht mehr zugeben will, und dann hat er noch einen Sohn, der in der Armee steht; aber, Sie
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