Der Graf von Monte Christo 1
Villefort, indem er in den Papieren blätterte, die ihm der Beamte übergeben hatte.
»Ich heiße Edmund Dantès«, antwortete der junge Mann mit ruhiger und klangvoller Stimme, »und bin Erster Offi zier an Bord des Schiff es ›Pharao‹, das den Herren Morrel und Sohn gehört.«
»Ihr Alter?«
»Neunzehn Jahre«, antwortete Dantès.
»Was machten Sie in dem Augenblick, als Sie verhaftet wurden?«
»Ich feierte meine Verlobung«, antwortete Dantès mit leicht bewegter Stimme.
»Sie feierten Ihre Verlobung?« wiederholte der Staatsanwalt, unwillkürlich zusammenzuckend.
»Jawohl, mein Herr, ich bin im Begriff , ein Mädchen zu heiraten, das ich seit drei Jahren liebe.«
So wenig gefühlvoll Villefort auch gewöhnlich war, so wurde er doch von diesem Zusammentreff en erschüttert, und die bewegte Stimme Dantès’, der mitten in seinem Glück überrascht worden war, regte eine sympathische Saite in seiner Seele an: Auch er verheiratete sich, auch er war glücklich, und man hatte sein Glück ge-stört, damit er die Freude eines Mannes zerstöre, der, wie er, schon an der Pforte des Glückes stand.
Die philosophische Erörterung dieses merkwürdigen Zusammentreff ens, dachte er, wird bei meiner Rückkehr in den Salon des Herrn von Saint-Méran großen Eff ekt machen. Und er legte sich schon, während Dantès weitere Fragen erwartete, die Rede zurecht, die er halten wollte.
Als er damit fertig war, lächelte er über ihre Wirkung und wandte sich wieder zu Dantès.
»Fahren Sie fort, mein Herr«, sagte er.
»Womit soll ich fortfahren?«
»Die Justiz aufzuklären.«
»Möge die Justiz mir sagen, über welchen Punkt sie aufgeklärt sein will, so werde ich ihr sagen, was ich weiß; nur«, fügte er seinerseits mit einem Lächeln hinzu, »mache ich Sie im voraus darauf aufmerksam, daß ich nicht viel weiß.«
»Haben Sie unter dem Usurpator gedient?«
»Ich sollte gerade in die Kriegsmarine eingestellt werden, als er fi el.«
»Sie sollen übertriebene politische Ansichten haben«, sagte Villefort, obgleich ihm nichts dergleichen gesagt war.
»Ich, politische Ansichten, mein Herr? Oh, ich schäme mich fast, es zu sagen, aber ich habe nie gehabt, was man eine Ansicht nennt.
Ich bin kaum neunzehn Jahre alt, weiß nichts, bin nicht bestimmt, irgendeine Rolle zu spielen; das wenige, was ich bin und sein werde, wenn man mir den Platz, den mein Ehrgeiz erstrebt, bewilligt, werde ich Herrn Morrel zu verdanken haben. Mich bewegen nur drei Gefühle: ich liebe meinen Vater, achte Herrn Morrel und bete meine Braut an. Das ist alles, was ich der Justiz sagen kann; Sie sehen, daß es nicht sehr interessant für sie ist.«
Während Dantès sprach, betrachtete Villefort sein ruhiges und of-fenes Gesicht, und die Worte Renées, die, ohne den Angeschuldigten zu kennen, ihn um Nachsicht für diesen gebeten hatte, fi elen ihm wieder ein. Der Staatsanwalt war genügend mit Verbrechern vertraut, um nicht aus jedem Worte Dantès’ dessen Unschuld heraus-zuhören.
Wahrhaftig, sagte sich Villefort, das ist ein netter Kerl! Es wird mir nicht schwer werden, Renées ersten Wunsch zu erfüllen. Das wird mir einen freundlichen Empfang bei ihr sichern!
Und bei dieser süßen Hoff nung klärte sich das Gesicht Villeforts auf.
»Sind Sie sich bewußt, Feinde zu haben?« fragte er Dantès, der jede Bewegung seines Gesichts beobachtet hatte.
»Ich, Feinde?« sagte Dantès. »Ich habe das Glück, zu wenig zu sein, als daß meine Stellung mir welche gemacht hätte. Ich bin vielleicht ein wenig aufbrausend, aber ich habe mich stets bemüht, meinen Untergebenen freundlich entgegenzukommen. Ich habe zehn oder zwölf Matrosen unter meinem Befehl, man frage sie, und sie werden sagen, daß sie mich lieben und respektieren, nicht wie einen Vater, dazu bin ich zu jung, sondern wie einen älteren Bruder.«
»Aber vielleicht haben Sie Neider. Sie sollen mit neunzehn Jahren Kapitän werden, was ein hoher Posten in Ihrem Stande ist; Sie wollen ein hübsches Mädchen heiraten, das Sie liebt, was in allen Ständen ein seltenes Glück ist; diese beiden Vorzüge, die Ihnen das Schicksal gewährt, haben Ihnen Neider schaff en können.«
»Ja, Sie haben recht. Sie müssen die Menschen besser kennen als ich, und es ist möglich, aber wenn diese Neider unter meinen Freunden sein sollten, so will ich, das gestehe ich Ihnen, sie lieber nicht kennenlernen, um sie nicht hassen zu müssen.«
»Sie haben unrecht. Man muß immer soviel wie möglich klar um
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