Der Graf von Monte Christo 1
sich sehen, und Sie scheinen mir wirklich ein anständiger junger Mann zu sein, so daß ich bei Ihnen von den gewöhnlichen Regeln der Justiz abweichen und Ihnen helfen will, Licht in die Sache zu bringen, indem ich Ihnen die Anzeige mitteile, die Sie vor mich gebracht hat. Hier ist sie; kennen Sie die Handschrift?«
Und Villefort zog den Brief aus der Tasche und hielt ihn Dantès hin. Dantès las; seine Stirn wurde fi nster, und er sagte:
»Nein, mein Herr, diese Schrift kenne ich nicht, sie ist verstellt.
Auf alle Fälle ist es eine geschickte Hand, die es geschrieben hat. Ich bin sehr glücklich«, fügte er hinzu, indem er Villefort dankbar ansah,
»es mit einem Mann wie Sie zu tun zu haben, denn mein Neider ist in der Tat ein wirklicher Feind.«
Und aus dem Blitz, der in den Augen des jungen Mannes auf-leuchtete, konnte Villefort die ganze unter der Ruhe verborgene Tatkraft erkennen.
»Und jetzt«, sagte der Staatsanwalt, »antworten Sie mir freimütig, nicht wie ein Angeklagter seinem Richter, sondern wie ein Mann, der sich in einer schwierigen Lage befi ndet, einem andern antwortet, der sich für ihn interessiert: Was ist an dieser anonymen Beschuldigung Wahres?«
Und Villefort warf voll Ekel den Brief, den ihm Dantès zurück-gegeben hatte, auf den Schreibtisch.
»Alles und nichts, mein Herr, und was ich Ihnen sagen werde, ist die reine Wahrheit, bei meiner Seemannsehre, bei meiner Liebe zu Mercedes, bei dem Leben meines Vaters.«
»Sprechen Sie«, sagte Villefort laut, und für sich fügte er hinzu: Wenn Renée mich sehen könnte, würde sie hoff entlich mit mir zufrieden sein und mich nicht mehr einen Kopfabschneider nennen!
»Als wir Neapel verließen, wurde der Kapitän Leclère von einem Nervenfi eber befallen; da wir keinen Arzt an Bord hatten und er an keinem Punkte der Küste anlegen wollte, da ihm daran lag, so schnell wie möglich nach der Insel Elba zu kommen, so verschlim-merte sich seine Krankheit immer mehr. Gegen Ende des dritten Tages, als er den Tod nahen fühlte, rief er mich zu sich.
›Mein lieber Dantès‹, sagte er zu mir, ›schwören Sie mir bei Ihrer Ehre, daß Sie tun wollen, was ich Ihnen sagen werde; es handelt sich um die höchsten Interessen.‹
›Ich schwöre es Ihnen, Kapitän‹, antwortete ich.
›Gut denn; nach meinem Tode fällt das Kommando des Schiff es Ihnen als Erstem Offi zier zu; fahren Sie nach der Insel Elba und steigen Sie im Hafen von Porto Ferrajo an Land, fragen Sie nach dem Großmarschall und übergeben Sie diesen Brief. Vielleicht wird man Ihnen einen anderen Brief übergeben und Sie mit einer Mission be-trauen. Diese Mission, die mir vorbehalten war, werden Sie an meiner Stelle ausführen, Dantès, und alle Ehre wird für Sie sein.‹
›Ich werde es tun, Kapitän, aber vielleicht kommt man nicht so leicht, wie Sie denken, zu dem Großmarschall.‹
›Hier ist ein Ring, den Sie ihm zustellen lassen werden und der alle Schwierigkeiten beseitigen wird.‹
Und dabei übergab er mir einen Ring. Es war Zeit; zwei Stunden darauf packte ihn das Delirium, und am folgenden Tag war er tot.«
»Und was taten Sie darauf?« fragte Villefort.
»Was ich tun mußte, was jeder andere an meiner Stelle getan hät-te; die Bitten eines Sterbenden sind unter allen Umständen heilig, aber bei uns Seeleuten sind die Bitten eines Vorgesetzten Befehle, die man erfüllen muß. Ich segelte also nach der Insel Elba, wo ich am folgenden Tag ankam; ich hieß alle Mann an Bord bleiben und stieg allein an Land. Wie ich vorhergesehen hatte, machte man mir Schwierigkeiten, mich zu dem Großmarschall zu führen; ich schickte ihm aber den Ring, der mir als Erkennungszeichen dienen sollte, und alle Türen öff neten sich vor mir. Er empfi ng mich, befragte mich nach den näheren Umständen des Todes des unglücklichen Leclère und, wie dieser vermutet hatte, übergab mir einen Brief, den er mich beauftragte, persönlich nach Paris zu bringen. Ich versprach es ihm, denn damit erfüllte ich den letzten Willen meines Kapitäns.
Ich landete, ordnete schnell alle Angelegenheiten an Bord und eilte dann zu meiner Braut. Dank Herrn Morrel wurden die kirchlichen Formalitäten rasch erledigt; das Verlobungsmahl fand statt; in einer Stunde wollte ich mich verheiraten und gedachte, morgen nach Paris zu reisen, als ich auf diese Anzeige hin, die Sie jetzt ebensosehr wie ich zu verachten scheinen, verhaftet wurde.«
»Ja, ja«, sagte Villefort, »alles dies scheint mir die Wahrheit zu
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