Der Graf von Monte Christo 1
»wünschen Sie irgend etwas von mir, das ich für Sie tun kann? Sprechen Sie.«
»Ich wünsche den Gouverneur zu sprechen.«
»Wie?« knurrte der Wärter ungeduldig. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß dies unmöglich ist.«
»Warum unmöglich?«
»Weil es nach der Gefängnisordnung den Gefangenen nicht erlaubt ist, das zu verlangen.«
»Was ist denn hier erlaubt?« fragte Dantès.
»Bessere Nahrung gegen Bezahlung, ein Spaziergang und zuweilen Bücher.«
»Ich brauche keine Bücher, ich habe keine Lust spazierenzugehen und fi nde meine Nahrung gut; ich habe nur den einen Wunsch, den Gouverneur zu sehen.«
»Wenn Sie mich immer wieder mit derselben Geschichte lang-weilen, so werde ich Ihnen nichts mehr zu essen bringen«, sagte der Wärter.
»Nun, wenn du mir nichts mehr zu essen bringst, so werde ich einfach verhungern«, erwiderte Dantès.
Der Ton, in welchem Dantès dies sagte, bewies dem Wärter, daß sein Gefangener glücklich sein würde zu sterben. Da nun jeder Gefangene seinem Wärter täglich etwa zehn Sous einbrachte, fürchtete der Kerkermeister, daß er Dantès verlieren könnte, und er begann deshalb in milderem Tone:
»Hören Sie! Was Sie da verlangen, ist unmöglich. Verlangen Sie es also nicht mehr, denn es ist ohne Beispiel, daß der Gouverneur auf den Wunsch eines Gefangenen in dessen Zelle gekommen wäre; führen Sie sich gut, dann wird Ihnen gestattet spazierenzugehen, und es ist möglich, daß Sie dabei einmal dem Gouverneur begegnen. Dann können Sie ihn ja fragen, und wenn er Ihnen antworten will, so ist das seine Sache.«
»Aber«, fragte Dantès, »wie lange kann ich auf diesen Zufall warten?«
»Je nun«, entgegnete der Wärter, »einen Monat, ein Vierteljahr, ein halbes Jahr, ein Jahr vielleicht.«
»Das ist zu lange«, sagte Dantès; »ich will ihn sofort sehen.«
»Oh«, antwortete der Wärter, »verrennen Sie sich nicht so in einen einzigen unmöglichen Wunsch, sonst sind Sie vor Ablauf von vierzehn Tagen verrückt.«
»So, meinst du?«
»Ja, verrückt; so fängt der Irrsinn immer an; wir haben davon hier ein Beispiel. Der Abbé, der diese Zelle vor Ihnen bewohnte, hat dadurch den Verstand verloren, daß er dem Gouverneur fortwährend eine Million anbot, wenn er ihn freilassen wollte.«
»Und wie lange ist’s her, daß er diese Zelle verlassen hat?«
»Zwei Jahre.«
»Er wurde freigelassen?«
»Nein, er wurde ins Verlies gebracht.«
»Höre«, sagte Dantès, »ich bin kein Abbé und bin nicht verrückt; vielleicht werde ich’s, aber im Augenblick habe ich leider noch meinen vollen Verstand; ich will dir einen anderen Vorschlag machen.
Eine Million biete ich dir nicht, denn ich kann sie dir nicht geben, aber ich biete dir hundert Taler, wenn du das nächstemal, da du nach Marseille kommst, zu den Kataloniern gehen und einem jungen Mädchen namens Mercedes einen Brief, nein, bloß zwei Zeilen übergeben willst.«
»Wenn ich diese zwei Zeilen überbrächte und wenn das entdeckt würde, so würde ich meine Stelle verlieren, die mir jährlich tausend Livres einträgt, ohne die Nebeneinnahmen und die Beköstigung mitzurechnen. Sie sehen also, daß ich ein großer Esel wäre, wenn ich tausend Livres um dreihundert aufs Spiel setzte.«
»So, dann höre und merke dir genau, was ich sage«, sprach Dantès.
»Weigerst du dich, Mercedes zwei Zeilen zu überbringen oder sie wenigstens davon zu benachrichtigen, daß ich hier bin, so lauere ich dir eines Tages hinter der Tür versteckt auf und zerschmettere dir in dem Augenblick, da du hereinkommst, mit diesem Schemel den Schädel.«
»Was, Drohungen!« rief der Wärter, indem er einen Schritt zu-rücktrat und sich bereitmachte, einen Angriff abzuwehren. »Sie sind entschieden verdreht im Kopfe; der Abbé hat geradeso angefangen wie Sie, und in drei Tagen werden Sie wie der unrettbar toll sein; zum Glück gibt’s Verliese im Schloß If.«
Dantès ergriff den Schemel und schwang ihn um den Kopf.
»Na, na«, rief der Wärter; »wenn Sie’s absolut wollen, so soll’s dem Gouverneur gemeldet werden.«
»Schön denn!« sagte Dantès, indem er seinen Schemel wieder hinstellte und sich darauf setzte, den Kopf gesenkt und mit wirren Augen, als ob er wirklich wahnsinnig würde.
Der Wärter ging und kam einen Augenblick darauf mit vier Soldaten und einem Korporal zurück.
»Auf Befehl des Gouverneurs«, sagte er, »führen Sie den Gefangenen ein Stockwerk tiefer.«
»Ins Verlies also?« fragte der Korporal.
»Ins
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