Der Graf von Monte Christo 1
demselben Morgen so glücklich gewesen war, und durch zwei geöff nete erleuchtete Fenster drang das lustige Geräusch eines Balles bis zu ihm.
Dantès faltete die Hände, hob die Augen zum Himmel und betete.
Das Boot setzte seinen Weg fort; es hatte die Tête du Maure passiert, befand sich nun in Höhe der Anse du Pharo und war im Begriff , die Batterie zu passieren. Dies war ein für Dantès unverständliches Manöver.
»Aber wohin führen Sie mich denn?« fragte er einen der Gendarmen.
»Das werden Sie sogleich erfahren.«
»Aber …«
»Es ist uns verboten, Ihnen irgendwelche Erklärung zu geben«, sagte der Mann.
Dantès war halb Soldat; Untergebene, denen es verboten ist zu antworten, zu fragen, schien ihm absurd, und er schwieg.
Die sonderbarsten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Da man in solch einem Boote keine lange Reise machen konnte und in dem Teil der Bucht, in der sich das Boot befand, kein Schiff vor Anker lag, so dachte er, daß man ihn an einem entlegenen Punkt der Küste absetzen und ihm sagen würde, daß er frei sei. Er war nicht gefesselt; das erschien ihm von guter Vorbedeutung. Und hatte ihm der Staatsanwalt, der so gut zu ihm gewesen war, nicht gesagt, daß er nichts zu fürchten habe, wenn er nur nicht den verhängnisvollen Namen Noirtier ausspräche? Hatte Villefort nicht vor seinen Augen den gefährlichen Brief, den einzigen Beweis, den es gegen ihn gab, vernichtet?
Er wartete also ab, stumm und nachdenkend, und versuchte mit dem an die Dunkelheit gewöhnten Auge des Seemanns die Nacht zu durchdringen.
Man hatte die Insel Ratonneau mit ihrem Leuchtturm rechts lie-genlassen und war, längs der Küste hinfahrend, auf der Höhe der Katalonierbucht angelangt. Die Augen des Gefangenen spähten mit verdoppelter Anstrengung: Dort war Mercedes, und es war ihm, als ob er jeden Augenblick auf dem fi nsteren Ufer die unbestimmte Form einer weiblichen Gestalt sich abzeichnen sähe.
Sagte denn Mercedes nicht eine Ahnung, daß ihr Geliebter dreihundert Schritt von ihr vorbeifuhr?
Ein einziges Licht leuchtete im Katalonierdorf. Dantès konnte erkennen, daß das Licht aus dem Zimmer seiner Braut kam. Mercedes war die einzige, die in der ganzen Kolonie wachte. Wenn er laut rief, konnte er von seiner Braut gehört werden.
Eine falsche Scham hielt ihn zurück. Was würden diese Männer sagen, wenn sie ihn wie einen Besessenen schreien hörten?
Er blieb also stumm und hielt die Augen auf das Licht geheftet.
Unterdessen setzte das Boot seinen Weg fort.
Das Licht verschwand hinter einer Anhöhe. Dantès wandte sich um und gewahrte, daß das Boot in die off ene See steuerte.
Während er, in seine Gedanken versunken, nach dem Licht gesehen hatte, hatte man die Segel gehißt, und das Boot wurde jetzt vom Wind getrieben.
Obwohl es Dantès widerstrebte, neue Fragen an den Gendarmen zu richten, näherte er sich ihm und sagte, seine Hand ergreifend:
»Kamerad, bei Ihrem Gewissen und Ihrer Soldatenehre beschwöre ich Sie, haben Sie Mitleid mit mir und antworten Sie mir. Ich bin der Kapitän Dantès, ein guter und loyaler Franzose, obgleich man mich ich weiß nicht welchen Verrats beschuldigt. Wohin führen Sie mich? Sagen Sie es, und auf Seemannswort, ich werde mich in mein Schicksal ergeben.«
Der Gendarm kratzte sich hinterm Ohr und sah seinen Kameraden an. Dieser machte eine Bewegung, die ungefähr so viel sagte wie: Mir scheint, daß jetzt nichts Schlimmes mehr dabei ist. Der Gendarm wandte sich an Dantès.
»Sie sind Marseiller und Seemann«, sagte er, »und fragen mich, wohin wir fahren?«
»Ja, denn ich weiß es auf Ehre nicht.«
»Ahnen Sie es nicht?«
»Nicht im geringsten.«
»Das ist nicht möglich.«
»Ich schwöre es Ihnen bei dem Heiligsten, was ich auf der Welt habe. Antworten Sie mir doch!«
»Unsere Weisung …«
»Die Weisung verbietet Ihnen nicht, mir mitzuteilen, was ich in zehn Minuten oder einer halben Stunde doch erfahren werde. Nur ersparen Sie mir bis dahin eine Ewigkeit der Ungewißheit. Ich bitte Sie darum, als ob Sie mein Freund wären; sehen Sie, ich will mich weder sträuben noch fl iehen, was ich übrigens gar nicht kann.
Wohin fahren wir?«
»Falls Sie nicht eine Binde vor den Augen haben, müßten Sie doch erraten, wohin wir fahren.«
»Nein.«
»Dann sehen Sie sich um.«
Dantès erhob sich, blickte nach dem Punkt, auf den das Boot zufuhr, und sah zweihundert Meter vor sich den schwarzen schroff en Felsen aufsteigen, auf dem sich, wie mit dem Gestein
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