Der Graf von Monte Christo 1
dieser unwiderrufl ich verloren war. Der Minister, der in der Fülle seiner Macht die geheimen Pläne Napoleons nicht zu erraten vermocht hatte, durchschaute doch jetzt im verzweifelten Kampf um seine Stellung die Absichten Villeforts. Er brauchte nur Dantès zu befragen. Statt daß er also den Minister belastete, kam er ihm zu Hilfe.
»Sire«, sagte Villefort, »die Raschheit der Ereignisse muß Eurer Majestät beweisen, daß nur Gott allein es hätte hindern können.
Was Eure Majestät als Verdienst meines Scharfsinns ansehen, ist nichts weiter als bloßer Zufall; ich nützte diesen Zufall als getreu-er Diener, das ist alles, was ich getan habe. Ich bitte Eure Majestät, mich nicht höher einzuschätzen, als ich verdiene, um nicht später von mir enttäuscht zu werden.«
Der Minister dankte dem jungen Mann mit einem beredten Blick, und Villefort begriff , daß ihm sein Plan, einen Freund zu gewinnen, auf den er nötigenfalls rechnen könnte, gelungen war, ohne etwas von der Dankbarkeit des Königs zu verlieren.
»Es ist gut«, sagte der König, »und jetzt, meine Herren«, fuhr er fort, zu Herrn von Blacas und dem Polizeiminister gewendet, »bedarf ich Ihrer nicht mehr, und Sie können sich entfernen; was hier weiter zu tun ist, betriff t den Kriegsminister.«
»Glücklicherweise, Sire«, versetzte Herr von Blacas, »können wir auf die Armee rechnen. Eure Majestät wissen, wie ergeben sie, allen Berichten zufolge, Ihrer Regierung ist.«
»Reden Sie mir jetzt nicht von Berichten, Graf. Ich weiß, welches Vertrauen man in sie setzen kann. Doch weil wir eben von Berichten sprechen, Herr Baron, was haben Sie Neues gehört von dem Vorfall in der Rue Saint-Jacques?«
»Von dem Vorfall in der Rue Saint-Jacques?« rief Villefort unwillkürlich. Er faßte sich aber sogleich und sagte: »Vergebung, Sire!
Meine Ergebenheit für Eure Majestät läßt mich die Regeln des Anstands vergessen.«
»Sprechen Sie und handeln Sie, mein Herr«, entgegnete Ludwig XVIII., »Sie haben sich heute das Recht erworben zu fragen.«
»Sire«, versetzte der Polizeiminister, »ich kam heute, um Eurer Majestät Neues über jenen Vorfall mitzuteilen, als die Aufmerksamkeit Eurer Majestät durch die schreckliche Nachricht von der Landung Napoleons abgelenkt wurde. Nun haben diese Dinge für den König kein Interesse mehr.«
»Im Gegenteil, mein Herr«, sprach Ludwig XVIII. »Diese Angelegenheit scheint in unmittelbarer Beziehung zu derjenigen zu stehen, die uns beschäftigt, und der Tod des Generals Quesnel führt uns vielleicht auf den Weg, ein großes inneres Komplott zu entdecken.«
Villefort erbebte bei dem Namen des Generals Quesnel.
»Sire«, erwiderte der Polizeiminister, »in der Tat könnte alles glauben machen, daß der General sich nicht selbst das Leben genommen hat, wie man anfangs annahm, sondern daß er ermordet worden ist. – Der General kam eben, wie es scheint, aus einem bonapartistischen Klub, als er verschwand. Ein unbekannter Mann hatte ihn am Morgen aufgesucht und sich mit ihm in der Rue Saint-Jacques verabredet. Zum Unglück hat der Kammerdiener, der den General in dem Augenblick frisierte, als jener Unbekannte in das Kabinett trat, wohl verstanden, daß er die Rue Saint-Jacques nannte, aber nicht auch die Hausnummer behalten.«
Während der Polizeiminister dem König diese Mitteilungen machte, schien Villefort an seinen Lippen zu hängen. Er errötete und erblaßte abwechselnd. Der König wandte sich zu ihm:
»Nicht wahr, Herr von Villefort, Sie sind gleich mir der Meinung, daß der General Quesnel, den man für einen Anhänger des Usurpators halten konnte, der aber in der Tat ganz mir ergeben war, als Opfer eines bonapartistischen Anschlags fi el?«
»Es ist wahrscheinlich, Sire!« entgegnete Villefort. »Aber weiß man sonst nichts weiter?«
»Man ist dem Mann auf der Spur, der die Zusammenkunft veranlaßt hat.«
»Man ist ihm auf der Spur …?« wiederholte Villefort.
»Ja, der Bediente hat seine Beschreibung gegeben: Es ist ein Mann von fünfzig bis fünfundfünfzig Jahren, von bräunlicher Gesichtsfarbe, mit schwarzen Augen, dicken Brauen und schwarzem Backenbart; er trug einen blauen zugeknöpften Überrock und in seinem Knopfl och die Rosette eines Offi ziers der Ehrenlegion. Gestern traf man einen Menschen, dessen Aussehen genau mit der Beschreibung übereinstimmt, doch verlor man ihn an der Ecke der Rue de la Jussienne und der Rue Coq-Héron wieder aus den Augen.«
Villefort hatte sich auf eine
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