Der Graf von Monte Christo 1
den Händen auf dessen Schultern; so in gebeugter Haltung, denn das Gewölbe hinderte ihn daran, sich aufzurichten, steckte er den Kopf zwischen der ersten Stangenreihe hindurch und konnte nun nach unten sehen.
Einen Augenblick darauf zog er den Kopf schnell zurück. »Oh, oh«, sagte er, »ich hatte es geahnt.«
Und er glitt an Dantès hinunter auf den Tisch und sprang vom Tisch auf die Erde.
»Was hatten Sie denn geahnt?« fragte der junge Mann neugierig, indem er gleichfalls hinuntersprang.
Der alte Gefangene überlegte.
»Ja«, sagte er, »so ist’s; die vierte Seite Ihrer Zelle grenzt an eine Außengalerie, eine Art Rundgang, wo die Patrouillen gehen und Schildwachen aufgestellt sind.«
»Sind Sie dessen sicher?«
»Ich habe den Tschako des Soldaten und die Spitze seines Bajonetts gesehen und mich so schnell zurückgezogen, um nicht von ihm bemerkt zu werden.«
»Nun denn?« fragte Dantès.
»Sie sehen wohl, daß es unmöglich ist, durch Ihre Zelle zu fl iehen.«
»Und was dann?« fragte der junge Mann weiter.
»Dann«, antwortete der alte Gefangene, »geschehe Gottes Wille.«
Dantès betrachtete diesen Mann, der mit solcher Gelassenheit auf eine seit langem genährte Hoff nung verzichtete, mit einem Gemisch von Staunen und Bewunderung.
»Wollen Sie mir jetzt sagen, wer Sie sind?« fragte Dantès.
»Mein Gott, ja, wenn es Sie jetzt, wo ich Ihnen zu nichts mehr nützen kann, noch interessiert.«
»Sie können mich trösten und aufrechterhalten, denn Sie erscheinen mir stark unter den Starken.«
Der Greis lächelte traurig.
»Ich bin der Abbé Faria«, sagte er, »seit , wie Sie wissen, Gefangener im Schloß If; aber ich war vorher drei Jahre auf der Festung Fenestrelle gefangen. Im Jahre wurde ich von Piemont nach Frankreich gebracht.«
»Aber warum hat man Sie eingesperrt?«
»Weil ich im Jahre den Plan träumte, den Napoleon hatte verwirklieben wollen; weil ich statt dieser Duodezländchen, die Italien zu einem Neste kleiner tyrannischer und schwacher König-reiche machten, ein großes und starkes einiges Reich wollte; weil ich meinen Cesare Borgia in einem gekrönten Tropf zu fi nden wähnte, der tat, als ob er mich verstände, um mich desto besser zu verraten.
Es war der Plan Alexanders VI. und Clemens’ VII.; er wird immer scheitern, da sie ihn vergeblich unternommen haben und Napoleon ihn nicht auszuführen vermocht hat; auf Italien lastet ein Fluch.«
Und der Greis ließ den Kopf sinken.
Dantès begriff nicht, wie jemand sein Leben für solche Dinge in die Schanze schlagen konnte.
»Sind Sie nicht«, fragte er, indem er anfi ng, die Ansicht des Kerkermeisters und die allgemeine Ansicht im Schloß zu teilen, »der Priester, den man für … krank hält?«
»Den man für verrückt hält, wollten Sie sagen, nicht wahr?«
»Ich wagte es nicht«, sagte Dantès lächelnd.
»Ja, ja«, fuhr Faria mit bitterem Lachen fort; »ja, ich bin derjenige, der für verrückt gilt, über den sich seit langem die Besucher dieses Gefängnisses lustig machen, der zur Belustigung kleiner Kinder dienen würde, wenn es an diesem Ort hoff nungsloser Verzweifl ung welche gäbe.«
Dantès blieb einen Augenblick unbeweglich und stumm.
»Also verzichten Sie auf die Flucht?« fragte er.
»Ich sehe, daß es unmöglich ist; es hieße sich gegen Gott aufl ehnen, wenn man versuchen wollte, daß geschehe, was Gott nicht will.«
»Warum den Mut verlieren? Es hieße ja auch von der Vorsehung zu viel verlangen, wenn man wollte, daß es gleich auf den ersten Schlag gelänge. Können Sie nicht das, was Sie bis jetzt getan haben, in einer anderen Richtung wieder anfangen?«
»Aber wissen Sie denn, was ich getan habe, daß Sie von Wiederan-fangen sprechen? Wissen Sie, daß ich vier Jahre gebraucht habe, um mir die Werkzeuge, die ich besitze, zu machen? Wissen Sie, daß ich seit zwei Jahren eine Erde von der Härte des Granits scharre und aushöhle? Wissen Sie, daß ich Steine habe ausheben müssen, die ich früher nicht geglaubt hätte, bewegen zu können, daß ganze Tage bei dieser Titanenarbeit hingegangen sind und ich manchmal des Abends glücklich war, wenn ich nur einen Quadratzoll dieses alten, steinhart gewordenen Zements abgelöst hatte? Wissen Sie, daß ich zur Unterbringung all der Erde und Steine das Gewölbe einer Treppe habe durchbrechen müssen, in deren Höhlung ich alle die Trümmer nach und nach geschaff t habe, so daß der Raum heute voll ist und
Weitere Kostenlose Bücher