Der Graf von Monte Christo 1
zurück, während eine Masse losgelöster Erde und Steine in ein Loch stürzte, das sich unterhalb des von ihm gemachten öff nete.
Dann sah er im Grunde dieses Loches, dessen Tiefe er nicht abse-hen konnte, erst einen Kopf, Schultern und endlich einen ganzen Menschen erscheinen, der dem Schacht entstieg.
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Dantès nahm den neuen, so lange und ungeduldig erwarteten Freund in seine Arme und zog ihn zum Fenster hin, um ihn bei dem schwachen Licht, das in den Kerker drang, genau zu betrachten.
Es war ein Mann von kleiner Gestalt, mit grauen Augen, die unter dichten grauen Brauen hervorschauten, und noch schwarzem, bis auf die Brust herabhängendem Bart. Er machte den Eindruck eines Mannes, der mehr daran gewöhnt war, seine geistigen als seine körperlichen Kräfte anzustrengen. Die Stirn des Mannes war mit Schweiß bedeckt.
Seine Kleidung hing ihm in Fetzen um den Körper.
Er sah wie ein Mann von fünfundsechzig Jahren aus, aber eine gewisse Kraft in den Bewegungen zeigte, daß er noch nicht so alt sei, wie ihn die lange Gefangenschaft erscheinen ließ.
Er erwiderte die Freude des jungen Mannes mit Herzlichkeit, obgleich es eine große Enttäuschung für ihn gewesen war, dort, wo er die Freiheit zu fi nden geglaubt hatte, auf einen anderen Kerker zu stoßen.
»Sehen wir zuerst«, sagte er, »ob es möglich ist, vor den Augen Ihrer Wärter die Spuren meines Weges verschwinden zu lassen. Unsere ganze Zukunft hängt davon ab, daß sie nichts merken.«
Dann beugte er sich zu der Öff nung hinab, hob den schweren Stein mit Leichtigkeit und setzte ihn in das Loch.
»Dieser Stein ist sehr nachlässig gelöst worden«, sagte er, den Kopf schüttelnd. »Haben Sie denn keine Werkzeuge?«
»Und Sie?« fragte Dantès erstaunt, »haben Sie denn welche?«
»Ich habe mir einige gemacht. Mit Ausnahme einer Feile habe ich alles, was ich brauche, Meißel, Zange, Hebeeisen.«
»Oh, ich wäre neugierig, diese Erzeugnisse Ihrer Geduld und Ihres Fleißes zu sehen«, sagte Dantès.
»Sehen Sie, da ist zuerst ein Meißel.«
Und er zeigte ihm eine scharfe Klinge mit einem Buchenholz-griff .
»Woraus haben Sie denn die Klinge gemacht?« fragte Dantès.
»Aus einem der Stäbe meines Bettes. Mit diesem Werkzeug habe ich mir den ganzen Weg bis hierher gehöhlt, ungefähr fünfzig Fuß.«
»Fünfzig Fuß!« rief Dantès mit einer Art Schrecken.
»Sprechen Sie leiser, junger Mann; es kommt oft vor, daß man die Gefangenen belauscht.«
»Man weiß, daß ich allein bin.«
»Einerlei.«
»Und Sie sagen, daß Sie einen Gang von fünfzig Fuß ausgegraben haben, um bis hierher zu gelangen?«
»Ja, so groß ist ungefähr die Entfernung von meiner Zelle bis zu der Ihren; nur habe ich meine Kurve in Ermangelung geometrischer Instrumente falsch berechnet; ich glaubte, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, bis zur äußeren Mauer gelangen, dieselbe durchhöhlen und ins Meer springen zu können. Ich habe mich längs des Korridors, auf den Ihre Zelle geht, hinausgearbeitet, statt unten durchzugehen; meine ganze Arbeit ist vergeblich gewesen, denn dieser Korridor führt zu einem wohlbewachten Hof.«
»Allerdings«, antwortete Dantès; »aber der Korridor zieht sich nur an einer der vier Seiten meiner Zelle hin.«
»Gewiß, aber an dieser Seite bildet der Felsen die Mauer, und um den zu durchhöhlen, würden zehn mit allen erforderlichen Werkzeugen ausgerüstete Arbeiter zehn Jahre brauchen. Diese andere Mauer muß sich an die Fundamente der Wohnung des Gouverneurs anlehnen; wir würden in die jedenfalls verschlossenen Keller fallen und ergriff en werden; die andere Seite geht – warten Sie, wohinaus geht die andere Seite?«
Die fragliche Seite war diejenige, in der sich die Schießscharte befand, die das Licht einfallen ließ. Diese Öff nung verengte sich nach außen hin so, daß ein Kind nicht hätte durchkommen können, und war dazu mit drei Reihen von Eisenstangen versehen.
Der Fremde zog den Tisch unter das Fenster.
»Steigen Sie hinauf«, sagte er zu Dantès.
Dantès stieg auf den Tisch, stützte, die Absichten seines Gefährten erratend, den Rücken gegen die Mauer und hielt ihm beide Hände hin.
Der Mann, der sich die Nummer seiner Zelle als Namen gegeben hatte und dessen wahren Namen Dantès noch nicht kannte, stieg dann mit katzenartiger Gewandtheit, die man ihm bei seinem Alter nicht zugetraut hätte, auf den Tisch, von da auf Dantès’ Hände und von
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