Der Graf von Monte Christo 1
sein, als Sie glauben.«
»Sie machen mich zittern, auf Ehre!« sagte Dantès. »Ist denn die Welt voller Tiger und Krokodile?«
»Ja; nur sind die zweibeinigen Tiger und Krokodile gefährlicher als die andern. Er hat den Brief verbrannt, sagen Sie?«
»Ja, indem er zu mir sagte: ›Sie sehen, es existiert nur dieser Beweis gegen Sie, und ich vernichte ihn.‹«
»Dieses Benehmen ist zu erhaben, um natürlich zu sein.«
»Glauben Sie?«
»Ich bin dessen sicher. An wen war der Brief adressiert?«
»An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron Nr. in Paris.«
»Können Sie sich denken, daß der Staatsanwalt irgendein Interesse daran hatte, daß der Brief verschwände?«
»Vielleicht; denn er hat mich zwei- oder dreimal, in meinem Interesse, wie er sagte, versprechen lassen, mit niemand von dem Brief zu sprechen, und ich mußte ihm schwören, daß ich niemals den Namen des Mannes nennen würde, an den der Brief gerichtet war.«
»Noirtier …?« wiederholte der Abbé. »Noirtier? Ich habe am Hofe der früheren Königin von Etrurien einen Noirtier gekannt, der in der Revolution Girondist gewesen war. Wie hieß denn Ihr Staatsanwalt?«
»Von Villefort.«
Der Abbé brach in ein Gelächter aus.
Dantès sah ihn verblüff t an.
»Was haben Sie?« fragte er.
»Wissen Sie, wer dieser Noirtier war, armer Blinder, der Sie sind?
Dieser Noirtier war sein Vater!«
Wäre ein Blitzstrahl vor Dantès in die Erde gefahren und hätte einen Abgrund zu seinen Füßen aufgerissen, so hätte das nicht so vernichtend auf ihn gewirkt wie diese Worte des Abbés. Er sprang auf und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf, als ob er zer-springen wollte.
»Sein Vater! Sein Vater!« rief er.
»Ja, sein Vater, der sich Noirtier von Villefort nennt«, sagte der Abbé.
Wie ein Blitz schoß es Dantès durch den Kopf; alles, was ihm bis jetzt dunkel gewesen war, war plötzlich aufgeklärt. Das Benehmen Villeforts während des Verhörs, der vernichtete Brief, der geforderte Schwur, die fast bittende Stimme des Beamten, der, anstatt zu drohen, zu fl ehen schien – alles fi el ihm wieder ein. Er stieß einen Schrei aus, taumelte einen Augenblick wie ein Trunkener und stürz-te durch die Öff nung in den Gang, der nach seiner Zelle führte, indem er rief:
»Oh, ich muß allein sein, um meine Gedanken zu sammeln!«
D P
Als Dantès in seiner Zelle ankam, sank er auf das Bett, wo der Schließer ihn am Abend, starr und unbeweglich wie eine Bildsäule sitzend, fand.
Während dieser Stunden des Nachdenkens hatte er einen schrecklichen Entschluß gefaßt und einen furchtbaren Schwur getan.
Eine Stimme entriß ihn diesem Brüten; es war die des Abbés Faria, dem der Wärter gerade das Essen gebracht hatte und der nun Dantès einlud, zu ihm zum Essen zu kommen. Sein Ruf als Verrückter und besonders als unterhaltender Verrückter hatte dem alten Gefangenen einige Vorteile eingebracht, wie daß er etwas besseres Brot und sonn-tags ein Fläschchen Wein bekam. Nun war es gerade Sonntag, und der Abbé lud seinen jungen Genossen ein, sein Brot und seinen Wein mit ihm zu teilen.
Dantès folgte der Einladung. Er hatte seine gewohnte Fassung wiedergewonnen, aber in seinem Gesicht war etwas Starres und Festes, das von einem gefaßten Entschluß sprach. Der Abbé betrachtete ihn.
»Es tut mir leid, Sie in Ihren Nachforschungen unterstützt und Ihnen das gesagt zu haben, was ich gesagt habe«, äußerte er.
»Warum?« fragte Dantès.
»Weil ich Ihnen ein Gefühl eingefl ößt habe, das bislang Ihr Herz nicht kannte: die Rache.«
Dantès lächelte.
»Sprechen wir von etwas anderem«, sagte er.
Der Abbé sah ihn noch einen Augenblick lang an und schüttelte traurig den Kopf, dann sprach er, wie Dantès ihn gebeten hatte, von etwas anderem.
Dantès lauschte jedem seiner Worte mit Bewunderung.
»Sie sollten mich etwas von dem, was Sie wissen, lehren«, sagte er,
»sei es auch nur, um sich nicht in meiner Gesellschaft zu langwei-len. Es scheint mir jetzt, daß Sie die Einsamkeit einem ungebildeten und beschränkten Gefährten, wie ich es bin, vorziehen müssen.
Willigen Sie in meine Bitte, so verspreche ich Ihnen, nicht mehr von Flucht zu reden.«
Der Abbé lächelte.
»Ach, mein Kind«, sagte er, »das menschliche Wissen ist sehr beschränkt, und wenn ich Sie Mathematik, Physik, Geschichte und die paar lebenden Sprachen, die ich spreche, gelehrt haben werde, so werden Sie wissen, was ich weiß; und um Ihnen dieses, ganze Wissen
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