Der Graf von Monte Christo 2
Verräter gerächt, die Spanier haben ihn nicht füsiliert, und der im Grabe ruhende Ali hat ihn unbestraft gelassen; aber ich, der Verratene, Gemordete, ins Grab Geworfene, ich bin aus dem Grab herausgestiegen und bin es Gott schuldig, mich zu rächen; er sendet mich dazu her, und hier bin ich.«
Die arme Frau ließ ihren Kopf zwischen die Hände sinken; sie fi el auf die Knie.
»Verzeihen Sie, Edmund«, sagte sie, »verzeihen Sie meinetwegen, die ich Sie noch liebe.«
Die Würde der Gattin gebot dem Ausbruch der Liebenden Halt.
Ihre Stirn neigte sich fast bis auf den Teppich. Der Graf eilte auf sie zu und hob sie auf. Sie sank auf einen Stuhl und betrachtete durch ihre Tränen das männliche Gesicht Monte Christos, auf dem Schmerz und Haß sich drohend ausprägten.
»Ich sollte dieses verwünschte Geschlecht nicht zertreten«, sagte er, »sollte Gott nicht gehorchen, der mich zu seiner Bestrafung dem Leben wiedergegeben hat! Unmöglich, unmöglich!«
»Edmund«, sagte die arme Mutter, die kein Mittel unversucht lassen wollte, »wenn ich Sie Edmund nenne, warum nennen Sie mich nicht Mercedes?«
»Mercedes«, wiederholte Monte Christo, »Mercedes! Wohlan denn, ja, Sie haben recht, dieser Name ist mir noch süß auszusprechen. O
Mercedes, ich habe Ihren Namen ausgesprochen mit den Seufzern der Schwermut, mit dem Stöhnen des Schmerzes, mit dem Röcheln der Verzweifl ung; ich habe ihn ausgesprochen, starr vor Kälte, zu-sammengekauert auf dem Stroh, habe ihn ausgesprochen, während ich mich, von Hitze verzehrt, auf den Fliesen meines Kerkers wälzte.
Mercedes, ich muß mich rächen; denn vierzehn Jahre habe ich gelitten, geweint, gefl ucht; jetzt, Mercedes, muß ich mich rächen.«
Der Graf rief seine Erinnerungen zu Hilfe, um sich in seinem Haß zu bestärken und davor zu bewahren, den Bitten der Frau, die er so sehr geliebt hatte, nachzugeben.
»Rächen Sie sich, Edmund«, rief die arme Mutter; »rächen Sie sich an dem Schuldigen, an ihm, an mir, aber nicht an meinem Sohn!«
»Die Heilige Schrift sagt«, antwortete Monte Christo: »Die Sünden der Väter sollen heimgesucht werden an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied. Da Gott diese Worte seinem Propheten diktiert hat, warum sollte ich besser sein als Gott?«
»Weil Gott über Zeit und Ewigkeit verfügt, der Mensch aber nicht.«
Monte Christo stieß einen Seufzer aus, der einem Aufschrei glich, und faßte sich mit beiden Händen ins Haar.
»Edmund«, fuhr Mercedes fort, indem sie die Arme nach dem Grafen ausstreckte, »Edmund, seit ich Sie kenne, habe ich Ihren Namen angebetet, Ihr Andenken hochgehalten. Edmund, mein Freund, löschen Sie das edle und reine Bild, das ich von Ihnen im Herzen trage, nicht aus. Edmund, wenn Sie wüßten, wie viele Gebete ich für Sie zu Gott gesandt habe, solange ich Sie noch unter den Lebenden glaubte und seitdem ich Sie für tot hielt, ja, für tot! Ich glaubte Ihre Leiche im Grund irgendeines fi nsteren Turmes begraben oder in einen jener Abgründe gestürzt, in die die Gefängniswärter die gestorbenen Gefangenen hinabrollen lassen, und ich weinte!
Was konnte ich für Sie tun als beten oder weinen? Hören Sie mich an: Zehn Jahre lang habe ich jede Nacht denselben Traum gehabt.
Man hat erzählt, daß Sie hätten fl iehen wollen, daß Sie die Stelle eines anderen Gefangenen eingenommen hätten, in das Grabtuch eines Toten gekrochen seien und daß man Sie dann von den Felsen des Schlosses If herabgeworfen habe; erst der Schrei, den Sie beim Aufprall auf die Felsen ausgestoßen haben, soll Ihren Totengräbern, die nun Ihre Henker geworden waren, die Verwechslung off enbar gemacht haben. Nun wohl, Edmund, ich schwöre Ihnen bei dem Haupte des Sohnes, für den ich Sie anfl ehe: Zehn Jahre lang habe ich jede Nacht Menschen gesehen, die etwas Unförmiges auf der Höhe eines Felsens hin und her schwenkten; zehn Jahre lang habe ich jede Nacht einen fürchterlichen Schrei gehört und bin zitternd und vor Schreck erstarrt erwacht. Und auch ich, Edmund, glauben Sie mir, so schuldig ich war, auch ich habe viel gelitten!«
»Ist Ihr Vater gestorben, während Sie fern von ihm waren?«
rief Monte Christo. »Haben Sie das Weib, das Sie liebten, Ihrem Nebenbuhler die Hand reichen sehen, während Sie in der Tiefe des Verlieses schmachteten …«
»Nein«, unterbrach ihn Mercedes; »aber ich habe den Mann, den ich liebte, bereit gesehen, der Mörder meines Sohnes zu werden!«
Mercedes sprach diese Worte mit einem so tiefen
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