Der Graf von Monte Christo 2
Schmerz, mit einem so verzweifelten Ton aus, daß ein Schluchzen die Kehle des Grafen zerriß. Der Löwe war gebändigt, der Rächer war besiegt.
»Was fordern Sie?« sagte er. »Daß Ihr Sohn lebe? Gut denn, er wird leben!«
Mercedes stieß einen Schrei aus, der dem Grafen die Tränen in die Augen trieb. »Oh«, rief sie, indem sie die Hand des Grafen ergriff und an die Lippen führte, »oh, Dank, Dank, Edmund! Du bist so, wie ich dich immer geträumt, dich immer geliebt habe. Oh, jetzt kann ich es sagen!«
»Um so mehr«, antwortete Monte Christo, »als der arme Edmund nicht mehr lange Zeit hat, von Ihnen geliebt zu werden. Der Tote wird ins Grab zurückkehren, das Gespenst wieder in der Nacht verschwinden.«
»Was sagen Sie, Edmund?«
»Ich sage, daß ich sterben muß, da Sie es befehlen, Mercedes.«
»Sterben! Wer sagt das? Woher kommen Ihnen diese
Todesgedanken?«
»Sie nehmen doch nicht an, daß ich nach dieser öff entlichen Beleidigung vor dem ganzen Th
eater, vor Ihren Freunden und den
Freunden Ihres Sohnes, nach dieser Herausforderung durch ein Kind, das sich mit meiner Verzeihung wie mit einem Siege brüsten wird …
Sie nehmen nicht an, sage ich, daß ich nach alledem noch einen Augenblick das Verlangen habe zu leben. Nach Ihnen, Mercedes, habe ich am meisten mich selbst geliebt, das heißt meine Würde, diese Kraft, die mich andern Männern überlegen machte; diese Kraft war mein Leben. Sie brechen sie mit einem Wort. Ich sterbe.«
»Aber das Duell wird nicht stattfi nden, Edmund, da Sie verzeihen.«
»Es wird stattfi nden«, sagte Monte Christo feierlich; »nur wird statt des Blutes Ihres Sohnes, das die Erde tränken sollte, das meine fl ießen.«
Mercedes schrie laut auf und eilte auf Monte Christo zu; plötzlich aber hielt sie inne. »Edmund«, sagte sie, »es gibt einen Gott über uns, da Sie leben, da ich Sie wiedergesehen habe, und ich verlasse mich auf ihn mit ganzem Herzen. Indem ich auf seinen Beistand warte, baue ich auf Ihr Wort. Sie haben gesagt, mein Sohn solle leben; er wird leben, nicht wahr?«
»Er wird leben, ja«, entgegnete Monte Christo, erstaunt, daß Mercedes das Opfer, das er ihr brachte, ohne weitere Worte annahm.
Mercedes reichte ihm die Hand. »Edmund«, sagte sie, die Augen voller Tränen, »wie schön, wie edel ist das, was Sie getan haben; wie erhaben es ist, daß Sie Mitleid mit einer Armen gehabt haben. Ach, ich bin durch den Kummer noch mehr gealtert als durch die Jahre und kann meinen Edmund nicht einmal mehr durch ein Lächeln, durch einen Blick an die Mercedes von früher erinnern. Edmund, ich habe Ihnen gesagt, daß auch ich viel gelitten habe; ich wiederhole es Ihnen, es ist sehr traurig, sein Leben hingehen zu sehen, ohne sich einer einzigen Freude zu erinnern, ohne eine einzige Hoff nung zu bewahren; aber dies beweist, das mit dem Leben hier auf Erden nicht alles zu Ende ist. Nein, es ist nicht alles zu Ende, ich fühle es an dem, was mir noch im Herzen bleibt. Oh, ich wiederhole es Ihnen, Edmund, es ist schön, es ist erhaben zu verzeihen, wie Sie es getan haben!«
»Sie sagen das, Mercedes; und was würden Sie erst sagen, wenn Sie die Größe des Opfers kennten, das ich Ihnen bringe! Aber Sie können sich keine Vorstellung von dem machen, was ich verliere, indem ich in diesem Augenblick das Leben verliere.«
In den Blicken Mercedes’ lag Erstaunen, Bewunderung und Dankbarkeit. Monte Christo stützte seinen Kopf auf die brennenden Hände, als ob sein Kopf das Gewicht seiner Gedanken nicht mehr allein zu tragen vermöchte.
»Edmund«, sagte Mercedes, »ich habe Ihnen nur noch ein Wort zu sagen.« Der Graf lächelte bitter. »Edmund«, fuhr sie fort, »Sie werden sehen, daß, wenn auch meine Stirn bleich ist, meine Augen erloschen sind, meine Schönheit dahin ist, das Herz doch immer dasselbe ist …! Leben Sie denn wohl, Edmund; ich habe den Himmel um nichts mehr zu bitten … Ich habe Sie so edel und groß wie frü-
her wiedergesehen. Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen. Leben Sie wohl, Edmund!«
Der Graf antwortete nicht.
Mercedes öff nete die Tür und war verschwunden, ehe er aus den schmerzlichen Gedanken, in die ihn der Verlust seiner Rache hatte versinken lassen, wieder zu sich gekommen war.
Es schlug ein Uhr, als das Geräusch des Wagens, der Frau von Morcerf davonführte, den Grafen von Monte Christo den Kopf erheben ließ.
»Ich Tor«, sagte er, »daß ich mir an dem Tag, da ich beschloß, mich zu rächen, nicht das Herz aus der
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