Der Graf von Monte Christo
damit er nicht, ohne sie zu sehen, hinausgehen könnte, die aber nach langem Wachen von dem übermächtigen Schlaf bezwungen worden war.
Das Geräusch der Tür weckte sie nicht, und Monte Christo heftete einen Blick voll Weichheit und Mitleid auf sie.
Sie hat sich erinnert, daß sie einen Sohn besitzt, sagte er, und ich habe vergessen, daß ich eine Tochter besitze. Dann fuhr er, traurig den Kopf schüttelnd, fort: Arme Haydee! sie wollte mich sehen, sie wollte mich sprechen, sie hat etwas befürchtet oder erraten ... Ah! ich kann nicht von hinnen, ohne ihr Lebewohl zu sagen, ich kann nicht sterben, ohne sie irgend jemand anzuvertrauen.
Und er kehrte sacht an seinen Platz zurück und schrieb unter die ersten Zeilen:
Ich vermache Maximilian Morel, Kapitän der Spahis und Sohn meines ehemaligen Patrons Pierre Morel, Reeders in Marseille, zwanzig Millionen, wovon ein Teil von ihm seiner Schwester Julie und seinem Schwager Emanuel angeboten werden soll, wenn er nicht glaubt, ein solcher Vermögenszuwachs könne ihrem Glücke schaden. Diese zwanzig Millionen sind in meiner Grotte in Monte Christo vergraben, deren Geheimnis Bertuccio kennt.
Ist sein Herz frei, und er will Haydee, die Tochter Alis, des Paschas von Janina, heiraten, die ich mit der Liebe eines Vaters erzogen habe, und die für mich die Liebe und Zärtlichkeit einer Tochter gehabt hat, so wird er dadurch meinen letzten Wunsch erfüllen.
Gegenwärtiges Testament hat bereits Haydee zur Erbin meines übrigen Vermögens gemacht, das in Ländereien, englischen, und holländischen Renten und in dem Mobiliar in meinen verschiedenen Palästen und Häusern besteht, was sich nach Abzug dieser zwanzig Millionen und der verschiedenen Legate zu Gunsten meiner Diener immer noch auf sechzig Millionen belaufen mag.
Er vollendete eben die letzte Zeile, als ein hinter ihm ausgestoßener Schrei die Feder seinen Händen entfallen ließ. Haydee, sagte er, du hast gelesen?
Erweckt vom Tageslicht, das auf ihre Augenlider fiel, hatte sie sich in der Tat erhoben und dem Grafen genähert, ohne daß er ihre leichten und überdies vom Teppich gedämpften Tritte gehört hatte.
Oh! Herr, sprach sie, die Hände faltend, warum schreibst du zu einer solchen Stunde? Warum vermachst du mir dein ganzes Vermögen? Du verläßt mich?
Ich will eine Reise machen, liebes Kind, sagte Monte Christo mit einem Ausdrucke voll unendlicher Schwermut und Zärtlichkeit, und wenn mir Unglück widerführe ... Der Graf hielt inne.
Nun? ... fragte Haydee mit einer Bestimmtheit, die der Graf nicht an ihr kannte.
Nun, wenn mir das Unglück widerführe, sagte Monte Christo, so will ich, daß meine Tochter glücklich sei.
Haydee schüttelte traurig den Kopf und sagte: Du denkst an den Tod, oh Herr?
Es ist ein heilsamer Gedanke, wie der Weise sagt. Wohl! wenn du stirbst, sagte sie, so vermache dein Vermögen anderen, denn ich brauche nichts mehr.
Und sie nahm das Papier und zerriß es in vier Stücke, die sie mitten in das Zimmer warf. Doch diese für eine Sklavin so ungewöhnliche Energie hatte ihre Kräfte erschöpft, und sie fiel ohnmächtig zu Boden. Monte Christo neigte sich auf sie herab und hob sie in seinen Armen empor; und als er dieses schöne, bleiche Antlitz, diese schönen, geschlossenen Augen, diesen schönen, unbelebten Körper sah, kam ihm zum erstenmale der Gedanke, sie liebe ihn vielleicht auf andere Weise, als wie eine Tochter ihren Vater liebt.
Ach! murmelte er mit einer tiefen Entmutigung, ich hätte vielleicht noch glücklich sein können!
Dann trug er Haydee in ihr Gemach, übergab sie hier, noch ohnmächtig, den Händen ihrer Frauen, kehrte in sein Kabinett zurück, das er rasch schloß, und schrieb nun das zerrissene Testament noch einmal. Als er vollendete, ließ sich das Geräusch eines in den Hof fahrenden Wagens hören. Monte Christo näherte sich dem Fenster und sah Maximilian und Emanuel aussteigen.
Gut, sagte er, es war Zeit! Und er versiegelte sein Testament mit einem dreifachen Siegel.
Nach einem Augenblick hörte er das Geräusch von Tritten im Salon und öffnete selbst. Morel erschien auf der Schwelle, zwanzig Minuten vor der verabredeten Stunde.
Ich komme vielleicht zu bald, Herr Graf, sagte er, aber ich gestehe offen, ich konnte keine Minute schlafen, und so war es im ganzen Hause. Um wieder ich selbst zu werden, mußte ich Sie stark in Ihrer mutigen Sicherheit sehen.
Monte Christo vermochte diesem Beweise von Zuneigung nicht zu widerstehen, und er
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