Der Graf von Monte Christo
Augenblick wacht ein Freund, ein Vater, ein Mann, der mein und Maximilians Glück will, über mir.
Ach! ach! welch eine gräßliche Notwendigkeit!
Valentine, wollen Sie lieber Ihre Stiefmutter anklagen?
Ich wollte lieber hundertmal sterben! ah! ja, sterben!
Nein, Sie werden nicht sterben, und was Ihnen auch geschehen mag, Sie werden nicht klagen, sondern hoffen, das versprechen Sie mir.
Ich werde an Maximilian denken.
Sie sind meine vielgeliebte Tochter; ich allein kann Sie retten und werde Sie retten.
Valentine faltete im höchsten Schrecken die Hände, denn sie fühlte, daß der Augenblick gekommen war, Gott um Mut anzuflehen; sie richtete sich auf, um zu beten, murmelte Worte ohne Folge und vergaß dabei, daß ihre weißen Schultern keinen andern Schleier hatten, als ihr weiches Haar, und daß man ihr Herz unter der seinen Spitze ihres Nachtgewandes schlagen sah.
Der Graf legte sacht die Hand auf Valentines Arm, zog ihre Samtdecke bis zum Halse herauf und sprach mit väterlichem Lächeln: Meine Tochter, glauben Sie an meine Zuneigung, wie Sie an die Güte Gottes und an die Liebe Maximilians glauben.
Valentine heftete einen Blick voll Dankbarkeit auf ihn und blieb gelehrig wie ein Kind. Da zog der Graf aus seiner Westentasche die kleine Büchse von Smaragd, nahm ihren goldenen Deckel ab und schüttelte in Valentines Hände eine runde Pastille von der Größe einer Erbse. Valentine schob die Pastille in den Mund und verschluckte sie.
Und nun auf Wiedersehen, mein Kind, sagte der Graf, ich will versuchen, zu schlafen, denn Sie sind gerettet.
Gehen Sie, sagte Valentine, was mir auch begegnen mag, ich verspreche Ihnen, keine Furcht zu haben.
Monte Christo hielt lange seine Augen auf das Mädchen geheftet, das, von der Macht des narkotischen Mittels besiegt, allmählich entschlummerte.
Nun nahm er das Glas, leerte drei Viertel in den Kamin, damit man glaube, Valentine habe das Fehlende getrunken, und stellte es wieder auf den Nachttisch; dann kehrte er zur Tür der Bibliothek zurück und verschwand, nachdem er einen letzten Blick auf Valentine geworfen hatte, die mit dem Vertrauen und der Reinheit eines zu den Füßen des Herrn liegenden Engels einschlief.
Valentine.
Die Nachtlampe brannte immer noch auf dem Kamine und verzehrte die letzten Tropfen Öl; ein trauriges Licht färbte mit mattem Widerschein die weißen Vorhänge und die Bettücher. Alles Geräusch der Straße war jetzt erloschen, und im Innern herrschte eine furchtbare Stille.
Die Tür von Eduards Zimmer öffnete sich jetzt, und ein Kopf erschien in dem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel; es war Frau von Villefort, die zurückkehrte, um die Wirkung des Trankes zu beobachten.
Sie blieb auf der Schwelle stehen und ging dann sacht auf den Nachttisch zu, um zu sehen, ob das Glas leer sei.
Es war, wie gesagt, noch zum vierten Teile voll.
Frau von Villefort nahm es und leerte es in die Asche, dir sie mit dem Fuße umrührte, um die Einsaugung derFlüssigkeit zu erleichtern; dann spülte sie sorgfältig den Kristall aus, wischte ihn mit ihrem eigenen Taschentuch ab und stellte ihn wieder auf den Nachttisch.
Wer in das Innere dieses Zimmers hätte schauen können, würde gesehen haben, wie Frau von Villefort zögerte, ihre Augen auf Valentine zu heften und sich ihrem Bett zu nähern! die Giftmischerin fürchtete sich offenbar vor ihrem Werke.
Endlich faßte sie Mut, schob den Vorhang beiseite, stützte sich auf das Kopfkissen und neigte sich über Valentine.
Valentine atmete nicht mehr, ihre halbgeöffneten Zähne ließen kein Atom von dem Hauche durch, der das Leben verrät. Ihre weißen Lippen hatten zu zittern aufgehört; in einen violetten Dunst getaucht, der sich unter die Haut gezogen zu haben schien, bildeten ihre Augen dort, wo der Augapfel das Augenlid wölbte, einen weißen Vorsprung, und ihre langen, schwarzen Wimpern schienen dunkle Furchen über eine bereits wachsartig matte Haut zu ziehen.
Frau von Villefort beschaute dieses Gesicht mit einem sonderbar starren Ausdruck; sie hob dann rasch die Decke auf und legte ihre Hand auf das Herz des Mädchens. Es war stumm und eisig.
Was unter ihrer Hand schlug, das war die Arterie ihrer Finger; sie zog ihre Hand mit einem Schauer zurück. Valentines Arm hing über das Bett herab, und die Nägel waren an der Wurzel blau.
Für Frau von Villefort gab es keinen Zweifel mehr, alles war vorbei; das furchtbare Werk, das letzte, das sie zu vollbringen hatte, war vollbracht.
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