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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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dich
    hineinschüttest, kann es nicht an deiner Kehle liegen.«
    »Selbst das fällt mir schwerer und schwerer«, grummelte er. »Und erweist sich als weniger und weniger tröstlich.«
    Damit kippte er das nächste Glas hinunter, und ich suchte wieder das Weite.
    Livia führte mich an jeden Platz, den sie kannte. Einmal stiegen wir fast bis zur Hälfte auf den Dachstein, den Berg, dem die gesamte Gebirgskette ihren Namen verdankte, wo Livia mir einen, wie sie es nannte, Eisflodus zeigte. Ein Begriff, der mir nichts sagte, bis wir auf dem Rücken von Velox vor ihm standen. Ich war hingerissen.
    Breit wie ein Fluß zwängte sich der »Eisfluß« durch eine weite, gewundene Spalte im Berg, kräuselte und wellte sich, mit Wirbeln und Kaskaden, ganz genauso wie der Fluß aus Wasser, der an Haustaths vorbei sich in den See ergoß.
    Aber dies hier alles war aus Eis geformt, reglos - zumindest für das Auge. Das Eis, so erklärte Livia mir, bewegte sich, aber so unendlich langsam, daß, wenn ich ein
    unauslöschliches Zeichen in das Eis machen würde, dieses Zeichen sich am Ende meines Lebens nicht einmal um die Länge meines eigenen Körpers bergabwärts bewegt haben
    würde.
    Abgesehen von dem alten Schnee, der in Wirbeln und
    Verwehungen über das Eis trieb, erschien der Gletscher fast ebenso blau wie der Haustaths-Saiws. Der Anblick war so einladend neuartig, daß ich mit Velox auf das Eis
    hinausreiten wollte. Aber Livia verstärkte ihren Griff um meine Taille und warnte mich, das bleiben zu lassen.
    »Es ist Sommer, Thorn, und es gibt viele Runaruneis.«
    Schon wieder ein Wort, das mir nichts sagte, also riet ich:
    »Eis-Dämonen?«
    »Ne, du Esel«, lachte sie mich aus. »Verborgene Spalten.
    Tagsüber, wenn es warm ist, schmilzt das Eis zu kleinen Bächen, die sich ihren Weg bahnen und dabei tiefe Spalten einschneiden. Nachts gefriert der darüber hinwegwehende Schnee und formt Brücken. Du trittst auf etwas, das wie solides Eis aussieht, aber in Wirklichkeit nur eine dünne Kruste ist, und fällst in eine bodenlose Spalte und kommst nie wieder heraus. Ich will nicht, daß dies jemandem
    zustößt, den ich...« Sie brach so plötzlich ab, daß ich mich nach ihr umdrehte. Sie errötete und fuhr sehr hastig fort:
    »Ich will nicht, daß dies mir oder dir oder Velox zustößt.«
    »Dann werde ich es nicht wagen«, sagte ich und stieg ab.
    »Stattdessen werde ich unsere Namen ins Eis ritzen, genau neben dieser auffälligen schwarzen Felsspitze. Einer von uns muß vor seinem Tod zurückkommen - und du wirst mich überleben, Livia - und sehen, ob die Namen um eine
    Körperlänge weitergewandert sind.«
    »Oder sich einander genähert haben«, murmelte sie, als ich mit der Spitze meines Schwertes die Buchstaben ins Eis ritzte, »oder sich voneinander entfernt haben.«
    »Oder auch nur die Zeit überdauert haben«, fügte ich
    hinzu. Darauf erwiderte sie nichts.
    Ich wußte, daß die kleine Livia mich mochte. Und sie sah in mir auch kaum einen älteren Bruder, denn sie hatte deren zwei, die sie allerdings wenig schätzte. Ich nahm an, daß sie mich als einen außergewöhnlich umgänglichen und lustigen Onkel oder - Livia war ein außergewöhnlich aufgewecktes Kind - sogar eine Tante betrachtete. Oft sprach sie mit mir wie mit einer Frau, über Gewänder und Schmuck und
    dergleichen; Dinge, die ein Mädchen normalerweise nicht mit einem Mann bespricht. Und oft ertappte ich sie dabei, wie sie mir forschende Seitenblicke zuwarf. Livia war
    besessen von Neugier auf alles, was meine Person betraf.
    Und sie war entschlossen, ihre Neugier zu befriedigen.
    Eines Tages zog sie sich zum Schwimmen an einem
    abgeschiedenen Plätzchen am See aus und drängte mich,
    es ihr gleichzutun.
    »Ich kann nicht schwimmen«, log ich.
    »Dann wate herein, oder plansche ein wenig«, rief sie, während sie wie ein junger Otter herumtollte. »Es ist
    wunderbar.«
    »Ist es nicht«, erwiderte ich, indem ich einen Finger ins Wasser hielt und vorgab, am ganzen Körper zu frösteln.
    »Brrr! Du bist dieses Eiswasser gewohnt, aber ich komme aus wärmeren Gefilden.«
    »Lügner! Entweder bist du prüde, ein Feigling, oder du verbirgst ein abscheuliches Gebrechen.«
    Damit lag sie gar nicht so falsch. Ich widerstand ihrem Hohn und ihren Schmeicheleien, setzte mich einfach auf den Kies und genoß es, ihr beim Herumtollen zuzusehen, bis sie müde wurde. Als sie aus dem Wasser stieg und sich neben mich setzte, um sich von der Sonne trocknen zu lassen, bevor sie

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