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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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kamen als verächtliche Antwort nur ein paar vereinzelte Pfeile zurück.
    Das Haus Theoderichs war weder besser noch schlechter
    als die Häuser, in denen die niedrigsten Ränge seiner
    Krieger einquartiert waren; es entging mir allerdings nicht, daß zu der Familie, die das Haus bewohnte, eine schöne, junge Tochter gehörte, die jedesmal errötete, wenn sie den König anschaute oder er sie. Die Mitglieder dieser Familie waren die einzigen Bediensteten Theoderichs. Er hatte es offensichtlich nicht nötig, sich mit einem sklavischen Gefolge von Höflingen, Dienern, hohen Kriegern oder sonstigem
    Anhang dieser Art zu umgeben. Einige an der Eingangstür postierte Krieger dienten als Kuriere, wenn Nachrichten zu überbringen waren, und ab und zu betrat ein Zenturio oder ein Dekurio das Haus, um Bericht zu erstatten oder Befehle zu empfangen. Keine Wachen oder diensteifrigen Lakaien hinderten mich daran, zu ihm hineinzugehen, und es fanden auch keine Empfangszeremonien statt.
    Als ich den einfachen Raum betrat, in dem er saß, kniete ich dennoch unwillkürlich mit einem Bein vor ihm nieder und beugte mein Haupt, obwohl er Helm und Rüstung
    inzwischen abgelegt hatte und auch keinerlei militärische oder königliche Insignien trug, sondern wie ich in eine ganz gewöhnliche Tunika und Hosen gekleidet war.
    »Vái was soll denn das?« protestierte er lachend.
    »Freunde knien doch nicht vor ihren Freunden nieder.«
    Ohne meinen Kopf zu erheben, sagte ich zu dem
    Fußboden aus festgestampfter Erde: »Ich weiß wirklich
    nicht, wie man einen König begrüßt. Ich bin noch nie zuvor einem begegnet.«
    »Als du mir zum ersten Mal begegnet bist, war ich kein König. Laß uns auch weiterhin so ungezwungen und
    kameradschaftlich miteinander umgehen, wie wir es damals taten. Steh auf, Thorn.«
    Ich erhob mich und schaute ihm von Mann zu Mann ins
    Gesicht; dennoch wußte ich, daß er inzwischen nicht mehr der Thiuda war, der sich einst meiner angenommen hatte, und ich glaube, daß ich das auch erkannt hätte, wenn ich nicht über seine wahre Identität unterrichtet worden wäre. Er trug zwar keine königlichen Gewänder, aber sein Gesicht und seine Haltung strahlten eine ganz neue Königswürde aus. Seine blauen Augen konnten immer noch so fröhlich und schelmisch dreinblicken wie damals, als er lauthals seinen »Herrn Thorn« pries, aber ebensooft verfinsterten sie sich vor Nachdenklichkeit oder funkelten hitzig, wenn er von Kampf und Eroberung sprach.
    Unwillkürlich schoß mir mit einem Mal der Gedanke durch den Kopf: »Ach, könnte ich doch nur eine Frau sein!« Einen Moment lang war ich ausgesprochen neidisch auf das
    errötende Bauernmädchen, das den Sims des einzigen
    Fensters im Raum gerade mit einem Wedel aus
    Gänsefedern abstaubte. Entschlossen unterdrückte ich den Gedanken und meine Gefühle und fragte Theoderich:
    »Wie also soll ich dich angemessen ansprechen? Ich
    möchte unsere Freundschaft nicht mißbrauchen und dir in Gegenwart deiner Männer den gebührenden Respekt zollen.
    Wie redet ein normaler Sterblicher einen König an? Mit Euer Majestät? Mit Sire? Mit Mein Herr?«
    » ›Armer Teufel‹ wäre wohl am passendsten«, sagte er
    humorvoll, jedoch schwang in seiner Stimme auch eine Spur von Ernst mit. »All die Jahre, die ich am Hof von
    Konstantinopel verbracht habe, nannte jeder mich
    Theoderich, daher habe ich mich an diesen Namen
    gewöhnt. Mein Erzieher überreichte mir zu meinem
    sechzehnten Geburtstag sogar dieses goldene Siegel, damit ich meine Briefe, Befehle oder andere Schriftstücke mit einem Monogramm dieses Namens versehen konnte. Ich
    halte es in Ehren und benutze es immer noch. Hier, siehst du?«
    Er saß auf einer Bank an einem aus rohen Brettern
    gezimmerten Tisch, der mit Urkunden voller Notizen übersät war. Auf eines dieser Dokumente ließ er Talg von einer Kerze niedertropfen drückte sein Siegel hinein und zeigte es mir.
    Ich hatte bereits erkannt, daß das auf der zweiten Silbe betonte Wort »Theoderich« in einer Umgebung entstanden sein mußte in der eigentlich Griechisch und Lateinisch gesprochen wurde. Man hatte versucht, die Lautung des
    fremden Namens Thuidareichs so getreu wie möglich

wiederzugeben. Der neugeschaffene Name hatte außerdem
    noch eine weitere, sehr ehrenvolle Bedeutung, denn er
    enthielt die beiden griechischen Wörter theös und doron; von denen das erste die Bezeichnung für »Gott« ist, während das zweite soviel heißt wie »Geschenk«. Der Name,

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