Der Greif
der Stadtmauer, oder sie streifen zu Pferd durch die Gegend. Du weißt ja, wie sehr mich untätiges Herumsitzen aufreibt, deshalb versuche ich, mit jedem Spähtrupp mitzureiten. Wie du gesehen hast, gibt es ab und zu etwas für uns zu tun.«
»Ich konnte nur vom Fluß aus einen kurzen Blick auf
Singidunum werfen«, sagte ich. »Die Stadt sah nahezu
uneinnehmbar aus. Wie haben die Sarmaten es überhaupt
geschafft, sie zu erobern?‹
»Durch einen Überraschungsangriff«, sagte Thiuda
verstimmt. »Sie war nur mit einer ausgedünnten Garnison römischer Truppen besetzt. Allerdings hätten diese paar Mann zusammen mit den Bewohnern in der Lage sein
sollen, eine so günstig gelegene und stark befestigte Stadt zu halten. Der Legat der Garnison muß entweder ein
unfähiger Trottel oder ein wirklicher Verräter gewesen sein.
Er heißt Camundus, und das ist kein römischer Name; er ist also fremder, womöglich sogar sarmatischer Abstammung.
Wer weiß, ob er nicht schon länger heimlich mit König Babai paktiert. Aber egal, ob Camundus ein Narr oder ein
Überläufer ist, wenn er sich noch in der Stadt aufhält, bringe ich ihn und Babai um.«
Insgeheim hielt ich Thiudas Worte für etwas überheblich.
Er tat so, als habe er allein die Verantwortung für den ganzen Feldzug der Ostgoten gegen die Sarmaten. Ich
sagte jedoch nichts, und da er mich mit Fragen überhäufte, berichtete ich ihm so manches, was ich in Vindobona erlebt hatte. Natürlich schilderte ich ihm nur was Thornareichs getan hatte; von Veleda erzählte ich nichts. Schließlich hatte unsere kleine Schar den Stadtrand von Singidunum erreicht.
Wir befanden uns am Fuß des Hügels, der am Ufer aufragte.
Jetzt, wo ich Singidunum aus der Nähe sah, konnte ich mir eine bessere Vorstellung von den Schwierigkeiten machen, die die Ostgoten bei der Belagerung hatten.
Wie in Vindobona und den meisten anderen Städten
stellten auch in Singidunum die Außenbezirke den ärmeren Teil der Stadt dar. Hier befanden sich die Häuser der
einfacheren Bewohner, kleine Werkstätten, Lagerhäuser, Märkte, billige Garküchen und ähnliches. Die Festung der Garnison, die vornehmeren öffentlichen Gebäude, die
besseren Handelshäuser, die luxuriöseren Tavernen und
Herbergen sowie die Residenzen der reicheren Bevölkerung lagen oben auf dem Berg. Wie ich bereits gesagt habe, war der gesamte Hügel von einer Mauer umgeben, und jetzt
konnte ich auch sehen, daß die Mauer aus fest
zementierten, riesigen Steinblöcken bestand und
unbezwingbar hoch war. Als Thiuda, seine Männer und ich vom Flußufer aus die Hauptstraße hinaufritten, konnte ich weder einen Dachfirst noch irgendeine Kuppel oder
Turmspitze über der Mauer hervorragen sehen. In die Mauer war zudem nur ein einziger Zugang eingebaut, auf den die Straße, die wir hinaufritten, geradewegs zuführte. Das große, gewölbte, doppelte Tor bestand zwar nur aus Holz, war jedoch aus extrem dicken Balken gezimmert, die
wiederum von äußerst massiven Eisenbeschlägen
zusammengehalten wurden; zudem war es über und über
mit verstärkenden Eisenbossen versehen und sah daher
nicht weniger unzerstörbar aus als die Steinmauer.
Unter den Menschen, die die Straßen bevölkerten,
befanden sich ebenso viele Ostgoten wie Stadtbewohner.
Das alltägliche Leben schien in Singidunum seinen
gewohnten Gang zu nehmen; mir fiel jedoch auf, daß keiner der Stadtbewohner uns ein Lächeln oder einen Gruß
zukommen ließ, als wir vorbeiritten. Als ich Thiuda
andeutete, daß ich nicht den Eindruck hätte, als ob uns die Bevölkerung jubelnd als willkommene Befreier begrüßte, sagte er:
»Nun, das ist verständlich. Wenigstens haben sie nicht allzuviel dagegen, daß wir uns in ihren Hütten einquartiert haben. Viel mehr können sie uns nicht anbieten. Babai hat ihre Speisekammern, Keller und Läden geplündert und all ihre Nahrungsvorräte in den Stadtteil hinter der Mauer mitgenommen; die Leute hier sind also genauso hungrig wie wir. Ich weiß nicht, ob der reichere Teil der Bevölkerung innerhalb der Mauer sonderlich begeistert darüber ist, die Sarmaten beherbergen zu dürfen; die Leute hier unten sind jedenfalls gleichermaßen zornig auf Babai, weil er ihre Stadt eingenommen hat, auf Camundus, weil er es dazu kommen
ließ, und auf uns, weil wir nicht in der Lage sind, viel zur Verbesserung der Situation beizutragen.«
Ich sagte mit der angemessenen Bescheidenheit: »Ich
bezweifle, daß ich noch irgend etwas tun kann, was
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