Der Greif
Während wir rannten, ging der Ton langsam in die Höhe; aus dem tiefen Trommeln wurde zunächst eine Art wortloser Gesang, der dann in
einen schrillen, durchdringenden Klagelaut überging. Die Ostgoten, an denen wir vorbeiliefen, standen etwas
unschlüssig herum, schauten verdutzt drein und hielten ihre Waffen eng an sich gepreßt. Viele ihrer Offiziere streckten neugierig die Köpfe hinter den Ecken der schützenden
Häuser hervor und blickten zum Tor hinüber. Theoderich ging nicht in Deckung, um von dort aus das Tor zu
beobachten. Er ließ stattdessen alle Vorsicht außer Acht und rannte geradewegs zum Rand des freien Platzes vor dem
Tor. Es flogen jedoch keine Pfeile von den Zinnen herab. Die Sarmaten waren sicherlich ebenso überrascht und verwirrt wie unsere eigenen Männer.
Als ich Theoderich einholte, zeigte er auf das Tor, lachte und vollführte eine Art Freudentanz. Das unwirkliche
Geräusch, das die ganze Luft erzittern ließ, wurde vom Tor selbst verursacht. Überall, wo die Männer und ich die
Haferbehälter in die Ritzen hineingehämmert hatten, wurde das Holz nun gedehnt und auf noch nicht sichtbare Weise verformt, und es schien sich lauthals über diese Marter zu beklagen. In sein Wehklagen mischten sich bald weitere Geräusche: das Ächzen von altem, erstarrtem Holz, das
gebogen wurde, das Splittern von überdehntem Holz, das dem Druck nicht mehr standhalten konnte, sowie das
Quietschen von Eisenstiften und Bolzen, die langsam
herausgepreßt wurden. Ich konnte sehen und hören, wie
sich an einigen Stellen die Eisenbeschläge und Eisenbossen entweder langsam mit einem schabenden Geräusch oder
ruckartig mit einem Knall von der Vorderseite der Balken lösten.
Die schwächste Stelle des Tores war die in den rechten Torflügel eingelassene Halbtür. Sie wölbte sich plötzlich und barst. Diese Tür war so konstruiert worden, daß jeweils nur eine Person hindurchpaßte. Als sie zersplittert war, konnten wir erkennen, daß der obere Teil der Türöffnung von innen durch einen Querbalken versperrt wurde. Von der Tür war inzwischen nur noch ein Haufen zerborstenes Holz übrig, der beiseite geschafft werden konnte, um eine Öffnung
freizulegen, die so breit wie ein Mann und ungefähr halb so hoch sein würde.
Theoderich drehte sich um und rief der nächststehenden Schwadron einfacher Krieger zu: »Zehn Schwertkämpfer
zum Tor! Brecht diese Tür auf, klettert hinein und hievt alle Querbalken hoch!«
Die ersten zehn Männer der Truppe rannten ohne zu
zögern nach vorn und quer über den Platz. Die sarmatischen Wachen oben auf der Mauer hatten inzwischen ihre Fassung wiedererlangt und schössen einen Hagel von Pfeilen
hinunter, so daß nur neun der zehn Männer das Tor
erreichten, während Theoderich und ich schnell hinter einem nahegelegenen Haus in Deckung gingen. Die ersten Krieger, die bei der zerborstenen Halbtür eintrafen, hackten mit ihren Schwertern auf sie ein und zerrten die Holzstücke mit den Händen heraus. Ein Mann nach dem ändern bückte sich und sprang so flink durch die zerklüftete Öffnung, als ob er nur auf diesen Moment gewartet hatte, dabei wußte jeder von ihnen genau, daß dies einem Selbstmord gleichkam, falls innen vor dem Tor Sarmaten auf sie warteten.
Nun rief Theoderich: »Bringt den Sturmbock herauf!«
Die stumpfe Spitze des Sturmbocks, der hinter einer
Hauserreihe verborgen gelegen hatte, schob sich hervor.
Die Trager mußten den langen Stamm zunächst langsam
um die Straßenecke manövrieren; als er sich jedoch kurz darauf auf der Hauptstraße befand und mit der Spitze in unsere Richtung zeigte, schrie der Anfuhrer der Trager:
»Links! Rechts! Doppelte Geschwindigkeit! Links-rechtslos!« und der große Sturmbock näherte sich so schnell die vielen Manner, die ihn trugen, nur laufen konnten.
Die anderen neun Männer waren gerade erst durch das
Tor gestiegen, und keiner von uns wußte, was sie dort
drinnen gerade taten oder was ihnen vielleicht inzwischen schon zugestoßen war; dennoch winkte Theoderich bereits mit seiner Lanze die Träger mit dem Sturmbock herauf.
Dann deutete er mit der Spitze seiner Lanze auf das Tor, was bedeutete, daß sie gar nicht erst anhalten und auf Befehle warten sollten, sondern, um noch mehr Schwung zu bekommen, zielstrebig weiterlaufen und sofort das Tor
angreifen sollten, ohne sich darum zu kummern, ob es sich öffnete, brüchig wurde oder womöglich noch genauso stabil war wie zuvor.
In genau diesem Augenblick
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