Der Greif
zum
kaiserlichen Hof Zutritt haben würde, um vom Kaiser des Ostreiches höchstpersönlich empfangen zu werden. Ich
fühlte mich so ähnlich wie damals, als ich aus dem
Mönchskloster geworfen und ins Nonnenkloster geschickt wurde: Teils ängstlich und teils voller Vorfreude auf die mir bevorstehenden neuen Abenteuer.
»Ich bin nicht im mindesten daran interessiert, diese Stadt noch sehr lange besetzt zu halten«, fuhr Theoderich fort.
»Wie jeder andere frei geborene und frei lebende Gote habe ich für eine Stadt, die von einer Mauer umgeben ist, nichts übrig. In unserer amalischen Hauptstadt Novae, von der aus man direkt auf die Donau und auf das an sie angrenzende Flachland blicken kann, fühle ich mich wesentlich wohler.
Ihr, meine beiden Marschälle, werdet den Kaisern die Lage jedoch ganz anders darstellen. Ihr müßt den beiden
Regenten den Eindruck vermitteln, daß mir so viel an der Stadt gelegen ist, daß ich am liebsten für immer hier bleiben und Singidunum zu meiner neuen Hauptstadt erklären
würde. Ich gebe die Stadt erst auf, wenn ich bekommen
habe, was ich im Tausch für sie verlange. Realistischer gesprochen heißt das, daß ich die Stadt so lange halten werde, wie ich kann. Ihr beide müßt also den Kaisern in Ravenna und Konstantinopel meine Forderungen
unterbreiten, bevor die Sarmaten mir bei einem Gegenangriff die Stadt vielleicht wieder entreißen.«
Über den Tisch hinweg überreichte er jedem von uns ein Pergament, auf dem viele Zeilen in Theoderichs Handschrift standen und das mit seinem in purpurfarbenes Wachs
gepreßten Monogramm versiegelt war.
»Ich habe fast die ganze Nacht gebraucht, um diese
Schriftstücke aufzusetzen«, erklärte er uns. »Eures ist in lateinischer Sprache verfaßt, Saio Soas, und deines, Saio Thorn, auf Griechisch.«
»Ich spreche zwar ein wenig Griechisch, kann jedoch die Schriftzeichen nicht lesen«, murmelte ich entschuldigend.
»Das ist auch nicht nötig. Am Hof von Konstantinopel kann das jeder; außerdem kennt ihr ja beide den Inhalt meines Schreibens. Die beiden Kaiser sollen ihren Dank für die Rettung Singidunums aus den Händen der Sarmaten zum
Ausdruck bringen, indem sie mir eine Bürgschaft zukommen lassen; mit anderen Worten, sie sollen mir einen Vertrag schicken, der die zwischen dem Reich und meinem
verstorbenen Vater geschlossenen Abkommen erneuert und bestätigt. Darin soll uns Ostgoten auf unbefristete Zeit das Eigentumsrecht an den Ländereien in Moesia Secunda
zugesichert werden, die Leo I. uns damals überließ.
Außerdem sollen uns wie zuvor für die Bewachung der
Reichsgrenze jedes Jahr dreihundert Pfund in Gold gezahlt werden. Sobald ich diesen Vertrag in meinen Händen halte, werde ich die Stadt jeder beliebigen Truppe übergeben, die das Reich als neue Garnison nach Singidunum schickt. Das wird jedoch, wie gesagt, erst dann geschehen, wenn ich im Besitz eines Vertrages bin, von dessen Gültigkeit und
Aufrichtigkeit ich überzeugt bin, und der so formuliert ist, daß auch die Nachfolger von Julius Nepos und diesem neuen
Leo ihn nicht verkürzen, verwerfen oder umschreiben
können.«
»Und wie können der Saio Soas und ich unseren
jeweiligen Kaisern beweisen, daß Singidunum tatsächlich in deiner Hand ist?« fragte ich.
Bei dieser weiteren Spitzfindigkeit blickten mich die beiden Männer verärgert an, dann jedoch sagte Theoderich: »Das Wort eines Königs muß genügen; aber wenn selbst du
schon diese unverschämte Frage stellst, dann könnten
andere das auch tun; daher werde ich sowohl dir wie auch dem Saio Soas eindeutige Beweise mitgeben.« Er rief mit erhobener Stimme: »Aurora, bring das Fleisch.«
Ich erwartete, daß das Mädchen auf diesen merkwürdigen Befehl hin große Holzteller oder Schneidebretter
hereinbringen würde, um die Mahlzeit darauf zu servieren.
Als sie jedoch aus der Küche kam, trug sie zwei Lederbeutel der mir bereits bekannten Art vor sich her, die sie
Theoderich aushändigte. Er öffnete einen der Beutel,
schaute hinein und gab ihn dann an Soas weiter. Den
anderen reichte er mir mit der beiläufigen Bemerkung:
»Auch Aurora hat in dieser Nacht kaum geschlafen. Sie
mußte diese Dinger da räuchern, damit sie nicht völlig verwest sind und stinken, wenn ihr sie abliefert. Julius Nepos erhält den Kopf von Camundus, Leo II. den von Babai. Ist das Beweis genug, Saio Thorn?«
Ich nickte ernüchtert.
»Saio Soas, Ihr habt den längeren Weg. Ihr müßt über
Land nach Ravenna
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