Der Greif
ich dieses Amt bis an mein
Lebensende ausüben, und mein Grabstein würde später
eine eindrucksvolle Inschrift tragen. Das wäre ein herrlicher Witz der Geschichte: ein Herzog und Marschall dieser
Epoche, der in Wirklichkeit gar kein richtiger Mann war, ohne daß irgendein Historiker davon Kenntnis gehabt hätte.
Theoderich, der immer noch auf eine Antwort wartete,
redete mir erneut gut zu: »Jeder würde dich voller Respekt Saio Thorn nennen.«
»Ach, du brauchst mich nicht zu überreden«, sagte ich.
»Ich fühle mich geschmeichelt und geehrt und bin ganz
überwältigt. Mir ging nur die Frage durch den Kopf, ob ein Marschall wohl noch kämpft oder nicht.«
»Das hängt davon ab, wohin deine königliche Mission dich führt. Es ist möglich, daß du auf dem Weg zu deinem Ziel Kämpfe zu bestehen hast. Du wirst das vielleicht jetzt nicht glauben wollen, aber es gibt tatsächlich Dinge, die genauso spannend sind wie ein offener Kampf: Intrigen,
Verschwörungen, diplomatische Verwicklungen,
Bereicherung und Macht. All das lernt ein königlicher
Marschall nicht nur kennen, sondern er wird sogar in solche Machenschaften hineinverwickelt und hat seine Freude
daran, in diesem Spiel sein Geschick und seinen Einfluß einzusetzen.«
»Ich hoffe nur, daß es trotz alledem auch noch Kämpfe zu bestehen gibt; und Abenteuer.«
»Das heißt also, daß du das Amt annimmst? Gut! So sei
es! Hails Saio Thorn! Und nun such dir ein paar weiche Pflastersteine und schau zu, daß du heute nacht gut
schläfst. Melde dich morgen früh in meinem Quartier, dann erkläre ich dir, wie deine erste Mission als Marschall aussehen wird. Ich verspreche dir, daß es eine Mission ist, die du sowohl spannend als auch vergnüglich finden wirst.«
5
Als Theoderich mir am nächsten Morgen meine erste
Mission erläuterte, schnappte ich nach Luft und sagte:
»Unmöglich! Ich soll mit einem Kaiser sprechen? Ich würde kein Wort herausbringen und wäre so stumm wie ein Fisch!«
»Das bezweifle ich«, sagte Theoderich zuversichtlich.
»Zwar bin ich nur ein unbedeutender König, dennoch hat es dir in meiner Gegenwart bis jetzt noch nie die Sprache verschlagen. Oft widersprichst du mir sogar. Wie viele meiner Untertanen würden das wohl wagen?«
»Das ist etwas ganz anderes. Du sagtest ja selbst, daß du noch kein König warst, als wir uns das erste Mal trafen; außerdem sind wir ungefähr im gleichen Alter. Bedenke
doch, Theoderich, ich bin nur ein Balg, das im Kloster aufwuchs, ein Bauer ohne Manieren. Ich habe mich noch nie in der Nähe einer Stadt oder eines Hofes aufgehalten...«
Theoderich fegte meine Einwände mit einem
»balgsdaddja« beiseite, was mich nicht besonders
ermutigte. Seit meinen Tagen im Kloster hatte man meine Argumente immer wieder für »Unsinn« erklärt.
Er lehnte sich über den Tisch und fuhr fort: »Dieser neue Leo ist selbst nur ein Balg. Du hast mir vor langer Zeit erzählt, Thorn, wie du dem Abt deines Klosters geholfen hast, seine Korrespondenz mit hochgestellten
Persönlichkeiten zu erledigen. Das Vokabular, der
Umgangston und die Schliche dieser hohen Herrschaften
sind dir also nicht völlig unbekannt. Du hast damit geprahlt, wie erfolgreich du bei den vornehmen Leuten in Wien den noblen Thorn gespielt hast. Die Umgangsformen am Hof
eines Kaisers unterscheiden sich nicht wesentlich von
denen, die du unter diesen Würdenträgern aus der Provinz kennengelernt hast. Außerdem brauchst du diesmal nicht mehr nur vorzutäuschen, eine Person von hohem Rang und Namen zu sein, denn eine solche bist du ja inzwischen
wirklich. Als ein Marschall des ostgotischen Königs wirst du unanfechtbare Referenzen vorweisen können. Außerdem
sprichst du gut genug Griechisch, um mit dem kleinen Kaiser Leo II. oder mit irgendwelchen Beratern, die für ihn die Amtsgeschäfte führen, verhandeln zu können.«
Die nun folgenden Worte waren nicht nur an mich,
sondern auch an den ebenfalls anwesenden Saio Soas
gerichtet: »Ich sende also meinen Saio Soas, der nur
Gotisch und Lateinisch spricht, zu Kaiser Julius Nepos nach Ravenna und meinen Sao Thorn zum Kaiser des Ostreiches.
So sei es!«
Meine Theoderich gegenüber geäußerten Befürchtungen,
dieser Mission nicht gewachsen zu sein, waren aufrichtig.
Gleichzeitig sah ich meinem Auftrag jedoch auch mit
Spannung entgegen. Nie im Leben hätte ich gedacht, daß ich jemals das in Konstantinopel gegründete Neue Rom
besuchen würde; geschweige denn, daß ich dort
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