Der Greif
gelegene Novae.
Ich dachte bei mir, daß Theoderich ziemlich übertrieben hatte, als er Novae als »Stadt« bezeichnete. Ich hatte nun schon mehrere Städte gesehen, und im Vergleich zu diesen war Novae wirklich nur ein Städtchen. Die Häuser waren überwiegend einstöckig, es gab kein Amphitheater, und die einzige Kirche war alles andere als majestätisch. Die zwei oder drei Thermen hatten nichts vom Prunk ihrer römischen Gegenstücke, und das Anwesen, das Daila als »den
königlichen Palast mit seinen Gärten« bezeichnete, war sehr viel bescheidener als zum Beispiel das des Herzogs Sunnja in Vindobona. Dennoch war Novae ein freundliches
Städtchen, das sich vom Flußufer aus einen sanften Hügel hinaufzog; die vielen Marktplätze waren von
schattenspendenden Bäumen umgeben und mit bunten
Blumen bepflanzt. Wie Theoderich mir bereits gesagt hatte, war Novae tatsächlich von keinerlei Mauern umgeben; Daila erklärte mir jedoch, daß die Stadt diese Offenheit nach allen Seiten durchaus nicht voller Selbstzufriedenheit genießen konnte.
»Hast du bemerkt, Saio Thorn, daß die Eingangstür jedes Wohnhauses, jedes Ladens und jeder Herberge so
angebracht ist, daß sie nicht auf gleicher Höhe liegt wie die Eingangstür des gegenüberliegenden Hauses? Das
geschah, damit die Männer im Falle einer Bedrohung oder eines Alarms mit ihren Waffen sofort aus ihren Häusern eilen können, ohne dabei mit denen zusammenzostoßen die
gerade das gegenüberliegende Haus verlassen«, erklärte mir Daila, als wir an Land gingen.
»Ja«, sagte ich, »ein Plan, der Weitblick beweist. Ich habe diese Vorsichtsmaßnahme bisher noch nicht einmal in einer Stadt bebachten können.« Dann fügte ich sofort taktvoll hinzu: »in einer größeren Stadt, meine ich. Aber jetzt sag mir, Optio, was wird von uns erwartet? Sollen wir uns in einer der Herbergen einquartieren?«
»Ach, ne. Ich werde mich mit den beiden Bogenschützen
in das Armeelager begeben, das hinter der Kuppe des
Hügels liegt. Wir werden auch die Pferde mitnehmen. Du dagegen wirst als Marschall von Prinzessin Amalamena
freundlich empfangen werden und im königlichen Palast
wohnen.«
Ich nickte, fuhr dann jedoch unsicher fort: »Wie du weißt, bin ich erst vor kurzem zum Marschall ernannt worden;
glaubst du, ich sollte mich der Prinzessin bewaffnet und in voller Rüstung vorstellen?«
Auch Daila war taktvoll: »Ahm... in Anbetracht dessen, daß du noch keine eigene Rüstung hast, die deiner... ahm...
Statur angepaßt wurde, würde ich Euch empfehlen, Saio
Thorn, in ganz gewöhnlicher Kleidung vor die Prinzessin zu treten.«
Ich beschloß, zumindest in sauberer Kleidung zu
erscheinen. Um mich ungestört umziehen zu können,
brachte ich meine Sachen in eine Hütte am Hafen. Dort
mußte ich jedoch feststellen, daß alle meine
Kleidungsstücke bei unseren Wildwasserfahrten feucht und muffig geworden waren. Mir blieb keine Zeit, all meine Sachen in der Sonne zu trocknen, also wählte ich die
besten, wenn auch nun feuchten, Gewänder aus, die ich in Vindobona als Thornareichs gekauft und getragen hatte: natürlich nicht die Toga, aber eine feine Tunika, die ich über ein passendes Untergewand streifte, dazu lange Hosen und meine Straßenschuhe mit der skythischen Schnalle. Auf den Schultern meiner Tunika befestigte ich dann meine Fibeln aus Bronze und roten Granaten. Als ich schließlich
vollständig angekleidet war, roch ich immer noch ziemlich modrig, obwohl ich bereits meine Phiole mit Rosenessenz hervorgezogen und ein paar Tropfen der duftenden
Flüssigkeit auf meine Kleider gesprenkelt hatte; außerdem gaben meine nassen Schuhe beim Laufen ein
quietschendes Geräusch von sich. Trotzdem glaubte ich, jetzt gut genug gekleidet zu sein, um wie ein Marschall des Königs auszusehen.
Das Grundstück, auf dem sich der Palast befand, war
ebenfalls nicht von einer Mauer, sondern lediglich von einer Hecke umgeben, die nur an einer Stelle von einem eisernen Gittertor unterbrochen wurde. Die davor aufgestellten beiden Wachposten waren die kräftigsten Goten, die ich je gesehen hatte; sogar ihre Barte waren viel buschiger als die der anderen. Beide trugen Helm und Rüstung und waren mit
Wurfspeeren bewaffnet. Ich ging auf sie zu, teilte ihnen mit, wer ich war und weshalb ich kam, und zeigte ihnen auch den Brief, den Theoderich mir für seine Schwester mitgegeben hatte. Ich bezweifelte, daß die Männer lesen konnten, nahm jedoch an, daß sie das Siegel erkennen
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