Der Greif
abzählen.«
»Nai«, stimmte er mir zu und setzte mich dann abermals in Erstaunen. »Und nun mußten zwei von ihnen sogar
innerhalb von nur wenigen Monaten abdanken.«
»Gleich zwei?« platzte ich unwillkürlich heraus.
»Nai. Der jüngere Leo starb hier, Julius Nepos wurde in Rom entthront. Habt Ihr nicht davon gehört?«
Ich überlegte, daß nun weder ich den Kaiser,
dessentwegen ich ausgesandt worden war, zu Gesicht
bekommen würde noch Saio Soas den seinen. Ich
murmelte: »Ich war fort, im Krieg. Abgeschnitten vom
restlichen Geschehen.«
Myros warf mir einen Blick zu, mit dem romanisierte
Griechen vermutlich häufig Barbaren bedachten. »So wart Ihr nicht in der Lage, Marschall, auf Eurem Weg hierher die Feuer- und Rauchzeichen des Leuchtturms zu deuten? Sie haben in den letzten Monaten von fast nichts anderem
berichtet. Ausgenommen natürlich von Eurer
bevorstehenden Ankunft.«
Mit einigem Verdruß gestand ich ein, daß ich die
Himmelsschrift nicht lesen konnte, und ich fügte hinzu: »Ich hätte gehofft, ich würde zumindest die Buchstaben meines eigenen Namens erkennen. Wie erreichte Euch die
Nachricht?«
Er lächelte überlegen, gleichsam als wolle er sagen: Wir Griechen sind allwissend. Dann erzählte er mir aber offen:
»Unsere Kundschafter sind überall. Zweifellos hörte einer von ihnen Euren Namen Saio Thorn, als Ihr und die
Prinzessin in Beroea oder an einem anderen Ort Halt
machtet.«
»So wird es sein«, sagte ich kühl, keineswegs erfreut, daß man mir nachspioniert hatte, ohne daß ich es bemerkt hatte.
Inzwischen waren wir in Konstantinopel eingetroffen. Um Myros zu demonstrieren, daß ich nicht im geringsten
beeindruckt war von der Pracht der kaiserlichen Stadt, setzte ich unser Geplauder fort: »Nun, Verwalter, berichtet mir von den abgesetzten und wechselnden Herrschern, von denen
Ihr gesprochen habt. Wirklich, ich habe noch nie gehört, daß so viele Herrscher daran glauben mußten wie unlängst im Kaiserreich.«
»Leider habt Ihr nur zu recht«, pflichtete Myros
niedergeschlagen bei. »Nun, was wäre über den
verstorbenen Leo zu berichten? In den ganzen sechs Jahren seines Lebens war er immer ein kränklicher Junge. Sein Großvater, der denselben Namen trug, hätte ihn nicht zu seinem Nachfolger bestimmen sollen. Der arme kleine Leo hatte selbst mit Hilfe seines Vaters als Regent nicht genug Entschlossenheit oder Willenskraft für eine solche
Verantwortung. Jedenfalls hat nun, da beide Leos tot sind, der Vater des kleinen Leo den kaiserlichen Purpur
beansprucht.«
»Und dieser Regent und Vater ist Zeno?«
»Ja. Wußtet Ihr nicht, daß er der adoptierte Sohn des
ersten Leo war? Er ist mit Ariadne, der Tochter jenes
Kaisers, verheiratet. Der verstorbene kleine Leo war der Sohn Ariadnes und ihres Gemahls, des jetzigen Kaisers.«
Entschlossen, nicht zu auffällig die prächtigen Statuen anzustarren, die unseren Weg säumten, setzte ich die
Unterhaltung fort: »Nun denn. Das östliche Kaiserreich wird also von Basileus Zeno und seiner Basilissa Ariadne regiert.
Was hat sich aber mittlerweile im Westen zugetragen?«
»Wie ich schon sagte, Julius Nepos wurde von einem
Mann namens Orest abgesetzt, den er selbst zum General seiner Armeen ernannt hatte. Nepos floh daraufhin nach Salona in Illyrien.«
»Augenblick! Ist Salona nicht der Ort, an den...?«
»Nai«, sagte Myros kopfnickend und lächelte boshaft. »An den der frühere Kaiser Glycerius verbannt worden ist,
nachdem Nepos ihn abgesetzt hatte. Fragt mich nicht,
warum Nepos ausgerechnet Salona als Zufluchtsort wählte.
Der rachsüchtige Glycerius ließ ihn dort ermorden.«
»Gütiger Himmel.«
»Das Beste kommt noch.« Mit einiger Verspätung
erkannte ich jetzt an dem weibischen Vergnügen, mit dem der Verwalter Klatschgeschichten erzählte, daß es sich um einen Eunuchen handeln mußte. Er fuhr fort: »Offenbar als Belohnung für diese Tat wurde Glycerius nach dem
unbedeutenden Bistum Salona das viel größere Erzbistum Mediolanum in Italien übertragen.«
»Lieber Gott! Ein Bischof begeht einen Kaisermord, und die Kirche befördert ihn noch?«
Myros verzog voller Abscheu das Gesicht. »Nun, da zeigt sich wieder die Korruption der Katholischen Kirche.
Konstantinopels tüchtiger Patriarch Akakios würde so etwas niemals in unserer orthodoxen Kirche des Ostens dulden.«
»Das will ich hoffen. Wer ist also nun Kaiser von Rom?«
»Der Sohn dieses Generals Orest, Romulus,
geringschätzig auch
Weitere Kostenlose Bücher