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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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auch noch eine Schwester namens Amalafrida habe. Diese sei älter als sie und
    Theoderich und bereits mit einem noch viel älteren Herzog namens Wulterich, der Ehrenwerte, verheiratet.«
    »Und du, Amalamena?« fragte ich, »wann und wen
    gedenkst du zu heiraten?«
    Sie warf mir einen so traurigen Blick zu, daß ich mich schämte, diese scherzhafte Frage gestellt zu haben.
    Nach einem kurzen Schweigen fand sie jedoch ihren
    Humor wieder. Sie deutete auf die uns umgebende
    Landschaft und sagte: »Dazu hätte ich hier in dieser Gegend geboren werden müssen, und zwar schon vor sehr langer
    Zeit.«
    »Was haben denn die Zeit und der Ort mit dem Heiraten
    zu tun?«
    »Ich habe gelesen, daß in dieser Gegend früher einmal ein König die Anordnung erlassen haben soll, jedes Jahr zu einem ganz bestimmten Tag alle jungen Mädchen, alle
    Witwen sowie alle anderen heiratsfähigen Frauen jeden
    Alters in einen großen, dunklen Saal ohne Fenster zu
    sperren. Dann wurden alle heiratsfähigen Männer des
    Königreichs ebenfalls hineingetrieben. Nur mit Hilfe seines Tastsinns mußte sich jeder Mann nun im Dunkeln eine Frau aussuchen und diese dann auch heiraten. So wollte es das Gesetz.«
    »Lieber Gott! Willst du damit etwa andeuten, daß du eine häßliche Frau bist? Oder eine alte oder eine nicht
    begehrenswerte...?«
    »So kann nur ein Mann daherreden!« unterbrach sie mich Iahend. »Warum gehst du ganz selbstverständlich davon
    aus, daß ur die Frauen in dem dunklen Saal häßlich waren?«
    Ich murmelte: »Nun... so gesehen...« Ich glaube, ich
    wurde sogar rot, und zwar nicht, weil ich mich ertappt fühlte, sondern weil sie gesagt hatte: ich redete wie ein Mann, und weil es mir gefiel, daß ich sie zum Lachen gebracht hatte, denn mir lag sehr viel daran, daß Amalamena Thorn
    liebgewann: als einen Mann, als einen fröhlichen Gefährten, als einen genialen Spaßmacher, oder als was auch immer.
    »Jedenfalls bin ich mir sicher, daß meine Schwester
    Amalafrida Wulterich nur geheiratet hat, weil sie glaubte, er sei wie mein Vater«, fuhr sie fort, »ich jedoch habe noch keinen Mann gefunden, der unserem Bruder ähnelt.«
    »Wie?«
    »Theoderich und ich waren noch Kinder, als er nach
    Konstantinopel ging. Ich hatte ihn nur ganz verschwommen als einen kleinen Jungen in Erinnerung. Dann kehrte er vor ein paar Monaten als erwachsener Mann und junger König zurück, der allen Frauen gefällt, der ihre Leidenschaften weckt und ihnen Schmeicheleien über ihre Lippen kommen läßt. Seine eigene dumme Schwester macht da keine
    Ausnahme.« Sie lachte wieder, diesmal allerdings nicht ganz so humorvoll. »Ach, dir brauche ich das ja nicht zu erzählen, Thorn. Du kennst ihn schließlich; obwohl Du ihn natürlich nicht mit den Augen einer Frau siehst.«
    Oh väi, dachte ich wehmütig, tat ich das denn nicht? Hatte ich das denn nicht getan? Die Prinzessin nannte mich einen Mann, erinnerte mich jedoch schon beim nächsten Atemzug unwissentlich an meine wirkliche Natur. Ich überlegte mir, ob ich Amalamena nur deshalb so attraktiv und
    anbetungswürdig fand, weil sie die leibliche Schwester Theoderichs war. Auf jeden Fall hatten ihre Worte mir
    deutlich gemacht, daß Thorn für sie mit Theoderich
    überhaupt nicht zu vergleichen war.
    Ohne es zu wollen versetzte sie mir noch einen weiteren Stich ms Herz, als sie sagte: »Selbst wenn ich, wie in früheren Zeiten die Königin Artemisia, meinen eigenen
    Bruder heiraten könnte, so würde er mich doch nicht zur Frau nehmen. Als er während seines kurzen Aufenthalts in Novae hier alle jungen Frauen bezauberte, bemerkte ich, daß er Frauen bevorzugt, die... robuster sind als ich.« Ich dachte an das kräftige Bauernmädchen Aurora zurück und mußte ihr im stillen rechtgeben. Amalamena seufzte und fuhr fort: »Und da es sehr unwahrscheinlich ist, daß ich einem zweiten Mann begegne, der so ist wie er, ist es
    vielleicht gleichgültig, daß ich... ich möchte damit sagen, daß ich langsam etwas müde werde, Thorn. Würdest du mir vom Pferd helfen und Swanilda zu mir bitten? Ich werde eine Zeitlang in der Kutsche weiterreisen.«
    Von da an ritt die Prinzessin immer seltener auf ihrem Maultier neben mir her, sondern zog sich stattdessen auch tagsüber sehr häufig in ihre Kutsche zurück, als ob diese ein Krankenlager wäre. Ich hielt mich so oft wie nur möglich in ihrer Nähe auf und versuchte, alles für sie zu tun, was in meinen Kräften stand. Oft entfernte ich mich weit von der Straße, um Blumen

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