Der Greif
Gefangennahme, lange bevor er Ocer entsandte, um Lösegeld von Euch zu fordern, entjungferte Strabo die Frau, die er für eine Prinzessin hielt - die Frau, die, nach dem Ehrenkodex aller Krieger, während ihrer Gefangenschaft unter seinem Schutz hätte stehen sollen.«
Theoderich knurrte und obwohl er kein Schwert trug,
machte er eine unwillkürliche Handbewegung auf seinen
Gürtel zu.
Ich berichtete kurz von den anschließenden Ereignissen und schloß mit den Worten: »Du siehst also, wie der Bote Hiob konnte ich allein entkommen, um dir diese Dinge zu erzählen.« Theoderich sagte, wieder etwas ruhiger:
»Nichtsdestoweniger erfülltest du in bewundernswerter
Weise die Mission, zu der ich dich entsandt hatte. Ich und mein ganzes Volk stehen tief in deiner Schuld.
Selbstverständlich werde ich meiner geliebten Schwester ein prächtiges Ehrengrabmal errichten lassen. Und ein weiteres, nur geringfügig unauffälligeres, soll zu Ehren von Odwulf und Daila und all ihren Kameraden, die auch ihr Leben
lassen mußten, erbaut werden. Was Augis hier betrifft, so habe ich ihn vor einiger Zeit zum Anführer der Ulanen
befördert. Als Zeichen meiner Dankbarkeit gegenüber jener Chasar-Frau, die uns so vortrefflich diente, werde ich unseren Palastpriester anweisen, eine Messe für ihre Seele abzuhalten. Habe ich irgend jemanden übersehen, Saio
Thorn?«
»Ne«, sagte ich. »Und ich habe auch sonst nichts mehr zu berichten außer einigen zufällig aufgeschnappten
Neuigkeiten und Klatschgeschichten, die
Staatsangelegenheiten betreffend. Sie würden
wahrscheinlich niemanden außer dir interessieren,
Theoderich.«
Er verstand meinen subtilen Hinweis, stand auf, streckte sich gähnend und erklärte das Treffen für vertagt.
Der Lekeis und der Ulan verließen das Zimmer.
Theoderich, ich und Soas, der andere Marschall, blieben zurück. Als wir zu unseren Liegen zurückschlenderten,
flüsterte ich Theoderich zu:
»Diese gutaussehende und vornehm gekleidete junge
Dame, die die Met-Schale mithereintrug - ist das nicht das Mädchen aus Singidunum, das du Aurora zu nennen
pflegtest?«
»Ja«, erwiderte Theoderich, ohne im geringsten die
Stimme zu senken. »Ich nenne sie immer noch Aurora. Ich vergesse ständig ihren richtigen Namen. Es sprach sich herum, daß sie ein Kind von mir erwartete, deshalb...« Er grinste, halb stolz, halb albern und zuckte die Schultern.
»Meine Glückwünsche euch beiden«, sagte ich. »Doch...
du hast sie geheiratet und erinnerst dich nicht einmal an ihren Namen?«
»Sie geheiratet? Gudisks Himins, ne, das könnte ich nicht machen. Es kann ihr daher selbstverständlich auch kein offizieller Titel zugesprochen werden. Doch bewohnt sie jetzt Amalamenas frühere Gemächer und erfüllt alle Pflichten einer königlichen Gemahlin. Das wird so lange der Fall sein, bis ich eines Tages eine Frau von genügend hohem Rang
finde, die ich zur Frau nehmen kann.«
»Und wenn das nicht geschehen sollte?«
Er zuckte wieder mit den Schultern. »Mein Vater hatte
auch nie eine rechtmäßige Königin. Unsere Mutter war auch nur seine Konkubine. Das brachte keinen Makel oder
irgendwelche sonstigen Nachteile für uns mit sich. Alles, was in Bezug auf die Thronfolge zählt, ist, daß ich Auroras Kind -
oder ihre Kinder - als meine eigenen anerkenne.«
Als wir wieder begannen, Met aus der Schale zu schöpfen, sagte ich: »Ich habe jetzt sehr lange geredet. Was ich noch an Gerüchten, Klatschgeschichten und aufgeschnappten
Indiskretionen zu berichten habe, kann noch ein wenig
warten. Ich würde gern erfahren, was sich hier im Westen ereignet hat, solange ich fort war.«
Theoderich gab Soas einen Wink, und der wortkarge
Mann berichtete in wenigen knappen Worten von seiner
eigenen Mission an einem kaiserlichen Hof. Wie ich bereits wußte, hatte Saio Soas in Ravenna nicht Julius Nepos als Kaiser angetroffen, sondern den ›Kleiner Augustus‹
genannten Knaben, der gerade zum Imperator gekrönt
wurde. Da der Wechsel mannigfache Verzögerungen mit
sich brachte - die Krönungsfeierlichkeiten, die Ernennung neuer Berater und vieles mehr - blieb Soas nichts anderes übrig, als untätig zu warten, bis er Theoderichs Nachricht und den geräucherten Kopf des Legatus Camundus
überbringen konnte. Selbst nachdem sich die Aufregung
etwas gelegt hatte und der neu ernannte junge Kaiser
anfing, Audienzen zu gewähren, waren viele andere
Abgesandte noch vor Soas an der Reihe. Als der
verabredete Termin dann
Weitere Kostenlose Bücher