Der Greif
endlich näherrückte, kam der
zweite große Umsturz - der nicht nur die Regentschaft von Romulus Augustus beendete, sondern das gesamte
weströmische Reich einschließlich der Vorstellung, daß ein Imperium von zwei gleichberechtigten Kaisern regiert
werden könne, veränderte. Audawakrs, bekannt als
Odoaker, übernahm als König und Untergebener von Zeno, Kaiser des Ostens, die Herrschaft.
Soas schloß mit den Worten: »Ich hütete mich, Odoaker
eine Petition im Namen Theoderichs vorzutragen, der den Vater des Mannes erschlagen hatte. Deshalb ritt ich wieder fort in der großen
Hoffnung« - er wies mit dem Kopf in meine Richtung -
»daß ein junger Kollege mehr Erfolg gehabt hätte.« Dann machte Soas noch einen kleinen Scherz, den einzigen, den ich je von ihm verommen hatte. »Ich besitze immer noch einen prächtigen geräucherten Kopf, falls jemand ihn haben möchte.«
Ich sprach nun über einige der vertraulichen Mitteilungen, die Strabo »Amalamena« gegenüber preisgegeben hatte -
daß die Tatsache, daß sein Sohn Rekitach als Geisel in Konstantinopel festgehalten wurde, Zeno keine wirkliche Macht über ihn gab und daß er damit rechnete, von Zeno dazu ermuntert zu werden, den Skiren Odoaker von seinem römischen Königsthron zu vertreiben. Ich zitierte Strabos eigene Worte in bezug auf Odoaker:
»Wenn es einem Ausländer gelungen ist, zu solcher Macht zu kommen, kann es auch einem anderen gelingen.«
Mit einem mutwilligen Funkeln im Blick fragte Theoderich:
»Schlägst du vor, daß ich Strabos Plan in die Tat umsetzen soll? Daß ich Odoaker vertreibe und die Herrschaft über das westliche Imperium an mich reiße?«
»Du bist zumindest dazu berechtigt, alle Ostgoten unter deiner Herrschaft zu vereinen«, erwiderte ich. »Strabos Constantiana ist in Aufruhr, in ganz Skythien herrscht Verwirrung. Strabo ist tot, und seine Völker sind führerlos.
Jetzt könntest du, zumal du noch Zenos Ernennung als
Magister militum praesentalis als Rechtfertigung hast, der wahre König aller Ostgoten werden, ohne auch nur dein Schwert zu zücken.«
»Bis auf ein kleines Detail«, sagte Marschall Soas.
»Strabo ist nicht tot.«
Ich fragte mich, ob ich zuviel Met getrunken hätte; ich konnte einfach nicht glauben, diese Worte gehört zu haben.
Theoderich warf mir einen mitfühlenden Blick zu und
erklärte:
»Während deiner langen Reise hierher, Thorn,
galoppierten Boten aus Constantiana schneller und auf
direkterem Weg nach Konstantinopel, Ravenna, Singidunum und in alle anderen größeren Städte, einschließlich dieser hier. Sie berichteten, daß Strabo zwar verletzt, aber noch am Leben sei.«
»Das ist unmöglich!« keuchte ich. »Odwulf und ich ließen den Mann mit vier verstümmelten Gliedern zurück, und aus jedem Stumpf spritzte Blut. Sogar seine Lippen waren blau und blutleer.«
»Ach, ich zweifle nicht an deinen Worten, Thorn. Die
Boten sagten, er sei ans Bett gefesselt, und nur zwei oder drei seiner geschicktesten und vertrauenswürdigsten Ärzte dürften ihn sehen. Nun, das ist nicht verwunderlich, wenn er nun so aussieht, wie du ihn uns beschrieben hast. Doch offensichtlich wurden seine Überreste entdeckt, bevor er den letzten Tropfen Lebensblut verlor. Vielleicht war aber auch göttliche Vorsehung mit im Spiel. Das erzählt man sich jedenfalls.«
»Eh?«
»Es heißt, Strabo habe sein Leben erneut Gott dem Herrn verschrieben und schwöre, er werde von nun an ein
besserer arianischer Christ sein als jemals zuvor.«
»Er wird keine allzu große Mühe damit haben. Aber
warum?«
»Um seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen für seine wundersame Errettung vom Tod und für seine
fortschreitende Besserung. Er schreibt alles einem Trunk von der Brustmilch der Heiligen Jungfrau Maria zu.«
6
Es war mir bestimmt, Strabo noch ein weiteres Mal in
meinem Leben zu sehen, wenn auch nur aus der Ferne, und das war einige Jahre später, deshalb werde ich davon zu gegebener Zeit berichten. Bei meiner Rückkehr nach Novae und nach meinem Wiedersehen mit Theoderich hatte ich
erwartet, mich ausruhen und frische Kräfte sammeln zu
können, bis mein König eine weitere Mission planen würde, auf die er seinen Marschall Thorn zu entsenden gedachte.
Doch war Theoderich natürlich sehr beschäftigt mit
mannigfachen eigenen Aufgaben. Die erste Pflicht eines Königs besteht darin, sich um die Bedürfnisse und Nöte seiner Untertanen zu kümmern. Und nun, als wahrer König aller Ostgoten, hatte
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