Der Greif
Widamer sich viel anständiger verhalten hatte als ich. Welche
Vermutungen oder Intuitionen er auch gehabt haben mochte in bezug auf mein gut gehütetes, dunkles Geheimnis, er hatte es jedenfalls keinem anvertraut. Zumindest glaubte ich das damals. Erst zu einem späteren Zeitpunkt - und in einem anderen Land - sollte ich erfahren, welche Auswirkungen die Begegnungen zwischen Veleda, Widamer und Thorn an
diesem einen schicksalhaften Tag zur Folge gehabt hatten.
Die Suche
1
So fuhr ich fort, mir die Zeit mit allerlei Aktivitäten zu vertreiben, was ja nicht mit wirklicher Aktion gleichzusetzen ist, bis zu dem Zeitpunkt, an dem mir vor Augen geführt wurde, wie viel Zeit inzwischen tatsächlich schon vergangen war. Diese Erkenntnis gewann ich eines Tages, als ich von meinem Landgut nach Novae ritt und den Hofarzt Frithila auf der Straße traf.
»Habt Ihr schon das Neueste gehört, Saio Thorn?« fragte er. »Gestern abend gebar die Dame Aurora eine weitere
Tochter.«
»Was Ihr nicht sagt! Ich muß zum Palast eilen und
Glückwünsche und Geschenke überbringen. Aber... Gudisks Himins... «, sagte ich und rechnete rasch nach. »Das
bedeutet, daß ich schon seit der Zeit, bevor des Königs erstes Kind geboren wurde, in müßiger Zurückgezogenheit und Stagnation mein Leben verbringe. Die kleine Arevagni ist gar nicht mehr so klein. Wie die Zeit vergeht!« Frithilas Kommentar bestand nur aus einem kurzen Knurrlaut,
deshalb fragte ich: »Wie kommt es, Arzt, daß Ihr Euch nicht freut als Überbringer so angenehmer Neuigkeiten?«
»Sie sind nicht gänzlich angenehm. Die Dame starb bei
der Geburt.«
»Gudisks Himins!« wiederholte ich, da mich diese
Neuigkeit wirklich schockierte. Aurora war für mich wie eine Schwester gewesen. »Aber sie war doch eine so kräftige Frau, von guter, starker, bäuerlicher Abstammung. Traten irgendwelche widrigen Umstände auf?«
»Keine«, sagte er seufzend und breitete hilflos die Arme aus. »Die Entbindung verlief ohne Komplikationen, und der Säugling war in jeder Hinsicht völlig normal. Doch dann fiel die Dame Aurora in ein Koma, aus dem sie nicht mehr
erwachte.« Er zuckte die Schultern und schloß mit den
Worten: »Gutheis wilja theins« - was soviel heißt wie
»Gottes Wille geschehe«.
Ich wiederholte Theoderich gegenüber diese fromme
Floskel als ich ihm kondolierte: »Gutheis wilja theins.«
»Gottes Wille, ja?« sagte er bitter. »Ein untadeliges Leben auszulöschen? Mich meiner geliebten Gefährtin zu
berauben? Zwei Kindern die Mutter zu nehmen? War das
wirklich Gottes Wille? Ich werde die liebe Aurora sehr vermissen. Sie war eine angenehme Frau. Und obendrein
noch sehr ruhig. Es gibt nicht viele von ihrer Art. Ich bezweifle, daß es Soas gelingen wird, noch so eine Frau für mich zu finden, doch ist er bereits dabei, Listen von
geeigneten Prinzessinnen aufzustellen. Er hofft, eine
ausfindig zu machen, deren Vermählung mit mir eine für die Ostgoten vorteilhafte Verbindung mit einem anderen
mächtigen Monarchen zur Folge hätte. Dazu wäre es jedoch von Vorteil, wenn ich als Herrscher mehr Einfluß hätte.
Sicherlich sollten ich und mein Volk etwas mehr darstellen als lediglich Zenos gehorsame Wachhunde.«
Ich räusperte mich und sagte bedächtig: »Auf meinem
Weg hierher habe ich nachgedacht, Theoderich. Es ist
schon geraume Zeit her, seitdem dir - oder mir - eine
bedeutende Eroberung gelungen ist. Du pflegtest zu sagen:
›Huarbodau mith blotha!‹, doch in letzter Zeit...«
»Ja, ja«, murmelte er. »Ich habe mich noch nicht einmal aufgerafft, meine Männer bei Strabos drei oder vier dreisten Aufständen in den Kampf zu führen. Ich weiß, ich weiß.«
»Es begleitete auch keiner von uns die Männer«, erinnerte ich ihn, »als sie loszogen, um den aufrührerischen Stamm der Sueven zur Räson zu bringen, von deren wildem Treiben in den Niederungen der Isere ich berichtet habe. Wäre es denkbar, Theoderich, daß wir beide - wie du auch selbst zu sagen pflegtest - aufgrund der langen Friedenszeiten Rost angesetzt haben?«
»Oder aufgrund des häuslichen Lebens«, sagte er und
stieß erneut einen tiefen Seufzer aus. »Doch jetzt, da Aurora nicht mehr da ist... Nun, einige meiner anderen Kundschafter berichten, daß Strabo bald ein noch größeres Ärgernis zu werden droht. Sie sagen, er versuche, sich mit einer
beträchtlichen Truppe abtrünniger Rugier aus dem Norden zu verbünden. Falls es eit kommt, Thorn - vielmehr wenn es soweit ist - wird
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