Der Greif
Cousin
Widamer, den Sohn des verstorbenen Bruders meiner
verstorbenen Mutter, willkommen. Obwohl von Geburt edler Amaler, entschloß sich Widamer vor einigen Jahren, sich dem Hof des Balten Euric, König der Westgoten, in Tolosa in Aquitanien zu verpflichten.« , Ich entbot ihm mit
hocherhobenem Arm den Willkommensgruß und sagte mit
meiner tiefsten, männlichsten Stimme: »Wailagamotjands«, und Widamer erwiderte den Gruß ohne ein Zeichen des
Wiedererkennens.
Theoderich fuhr fort: »Widamer kommt als Gesandter mit der Neuigkeit, daß unser königlicher Freund Euric und der römische König Odoaker ein gemeinsames Abkommen
getroffen haben, das besagt, daß die maritimen Alpen
künftig die feste Grenze zwischen ihren Gebieten sein
sollen. Das betrifft uns natürlich wenig, doch bin ich froh, es zu erfahren, einfach aus dem Grund, weil Widamer uns
deshalb einen Besuch abstattet. Wir haben einander zum letzten Mal als kleine Kinder gesehen.«
Ich sagte höflich: »Ich wünsche Euch einen angenehmen
Aufenthalt in Novae, junger Widamer.«
»Ach, er war bereits äußerst angenehm«, antwortete er
ohne die geringste Andeutung eines Schmunzelns oder
einer zweideutigen Anspielung.
Später, als die zahlreichen Gäste umherwandelten,
tranken und sich unterhielten, gelang es mir, Widamer aus dem Weg zu gehen. Als wir uns dann alle in das
Speisezimmer begaben und es uns an den Tischen
gemütlich machten, um einen Mitternachtstrunk zu uns zu nehmen, wählte ich eine Liege, die in einiger Entfernung von Theoderichs und Widamers Liege stand. Törichterweise
hatte ich aber offensichtlich den Tischweinen und dem Met allzusehr zugesprochen, weil ich, bevor die Nacht vorüber war, eine entsetzlich unkluge Bemerkung machte.
Theoderich schilderte seinem Cousin einige
Begebenheiten von seinem Werdegang aus den Jahren, in
denen sie sich nicht gesehen hatten, und in Anbetracht des festlichen Anlasses gab er vor allem fröhliche und
unterhaltsame Ereignisse zum besten. Die anderen Gäste hörten aufmerksam zu, wenn sie nicht gerade brüllend
lachten oder Theoderich mit Zwischenrufen unterbrachen, um eigene Erinnerungen zum besten zu geben, meist in
Form einer unanständigen oder ausgesprochen unzüchtigen Bemerkung. Und aus irgendeinem Grund verspürte ich auch das Verlangen, einen witzigen Einfall anzubringen. Ich kann nur vermuten, daß ich, als ich Theoderich und Widamer, die kaum voneinander zu unterscheiden waren, dort Seite an Seite sah, in meiner Trunkenheit nicht mehr wußte, welche meiner beiden Identitäten ich zu dem Zeitpunkt verkörperte.
Auf jeden Fall war mein Zustand der Verwirrung schon zu weit fortgeschritten, als daß ich noch daran gedacht hätte, daß ich allen Grund hatte, mich unauffällig zu verhalten.
«... Und dann, Widamer«, sagte Theoderich in bester
Laune, »als wir Singidunum besetzt hatten, nahm ich mir zum Zeitvertreib ein Mädchen von dort. Sie ist jedoch immer noch bei mir. Nicht nur, daß ich sie nicht losgeworden bin -
siehe da!« Er deutete auf die Stelle, wo seine Begleiterin zwischen einigen anderen Hofdamen lag. »Sie vermehrt
sich!«
Es stimmte, daß Aurora offensichtlich erneut schwanger war doch brachte die scherzhafte Anspielung sie nicht in Verlegenheit. Sie streckte Theoderich lediglich die Zunge heraus und stimmte in das Gelächter der Gäste mit ein, die sich darüber amüsierten. Dann übertönte meine eigene laute Stimme plötzlich das Gelächter:
»Und seht nur, Aurora errötet auch nicht mehr!
Theoderich, erzähl' Widamer, wie sehr Aurora zu erröten pflegte! Wahrhaftig, sie wurde so dunkelrot wie das
Muttermal auf Widamers Schwanz!«
Im Saal herrschte plötzlich Totenstille, bis auf das
vereinzelte Gekicher einiger peinlich berührter Damen.
Abgesehen davon, daß mein Herausposaunen einer solchen Intimität schon ungebührlich genug war, ist das Wort
»Schwanz« nicht üblich in gemischter Gesellschaft. Einige Frauen wurden auch wirklich feuerrot - genau wie Widamer -
und absolut jeder im Saal wandte sich um, um mich entsetzt anzustarren. Das Schweigen wäre zweifellos im nächsten Moment durch eine Salve von Fragen gebrochen worden,
die darauf abgezielt hätten, ob ich im Scherz gesprochen habe und, falls das der Fall wäre, worin die Pointe dieses Scherzes bestanden habe. Doch kam ich nun, in der
verspäteten Erkenntnis meiner eigenen Indiskretion, insoweit wieder zur Vernunft, daß ich eine plötzliche, auf den Alkohol zurückzuführende,
Weitere Kostenlose Bücher