Der Greif
als Frau zu fühlen. Ich habe bereits erzählt, daß ich, noch bevor ich über die Besonderheit meines Körpers Bescheid wußte, öfter weibliche Gefühle wie Unsicherheit, Zweifel und Mißtrauen und sogar Schuldgefühle hatte.
Sobald ich meine Weiblichkeit akzeptiert hatte, schien es mir, als kämen meine Gefühle nun leichter an die Oberfläche meines Bewußtseins und als könnte ich mich einfacher in sie hineinbegeben und sie ausdrücken oder beeinflussen. Wo ich einst als Junge Christus' männliche Standhaftigkeit am Kreuz bewundert hatte, konnte ich nun fast wie eine Mutter nachempfinden, welche Schmerzen er erlitten haben mußte, und ich konnte sogar Tränen darüber vergießen, ohne mich zu schämen. Ich konnte launisch sein wie eine Frau. Wie meinen Schwestern bereitete es mir Vergnügen, schöne
Kleider anzuziehen und mich schön zu machen. Wie sie
konnte ich wegen einer tatsächlichen oder eingebildeten Kränkung plötzlich mürrisch und verdrossen werden.
Wie sie war ich auch sehr empfindlich Gerüchen
gegenüber sie mochten angenehm oder abstoßend sein -,
und auch später machte ich oft die Erfahrung, daß Parfüms und andere Düfte meine Stimmung und Laune hoben oder
senkten.
Wie meine Schwestern verstand ich es instinktiv, meine tiefsten und heftigsten Gefühle hinter einer Maske von Gleichgültigkeit zu verbergen - hinter einer Maske, die für einen Mann unergründlich, für jede Frau jedoch durchsichtig war. Und wie meine Schwestern konnte ich sagen, ob eine andere Frau glücklich oder traurig, ehrlich oder hinterlistig war.
Zur gleichen Zeit war ich nach wie vor im Besitz der
weniger feinsinnigen, aber dennoch nützlichen
Eigenschaften und Fertigkeiten meiner männlichen Hälfte.
Als Junge an Unabhängigkeit gewöhnt, fühlte ich mich in St.
Pelagia wie eingesperrt; ich bewerkstelligte es deshalb, soviel Zeit wie möglich im Freien verbringen zu dürfen, indem ich mich bereit erklärte, Arbeiten zu übernehmen, vor denen sich die Nonnen und Novizinnen gerne drückten (zum Beispiel das Rinder- und Schweinehüten).
Ich hatte noch einen persönlicheren Grund, weshalb ich mich gerne bei den Scheunen und Wirtschaftsgebäuden
aufhielt. Aus demselben geheimen Grund stahl ich mich
sogar des Nachts aus dem Kloster, was mir nur gelang, weil es für die älteren Nonnen unvorstellbar war, daß ein
Mädchen nachts herumstreunte, zumal alle Mädchen und
Frauen glaubten, nachts würden Dämonen umgehen.
Dennoch war ich vorsichtig genug abzuwarten, bis Domina Aetherea kontrolliert hatte, daß alle Nonnen und Novizinnen sich zur Nachtruhe in ihre Zellen zurückgezogen hatten. Erst dann schlüpfte ich aus meiner Zelle und verließ das Kloster.
Was mich nach draußen zog, war neben dem Umstand,
daß ich so der strengen Zucht des Klosters entfliehen
konnte, manchmal auch das Bedürfnis nach einem Bad im
klaren Wasser der Kaskaden und die Notwendigkeit, meinen Juikabloth zu versorgen und weiter abzurichten.
So früh wie möglich hatte ich mir in St. Pelagia den Ruf erworben, gerne die »dreckigen Arbeiten im Freien« zu
verrichten. Bei der ersten sich ergebenden Gelegenheit rannte ich durch das Tal nach St. Damian, kletterte
unbeobachtet in den Taubenschlag, holte meinen Vogel und rannte wieder zurück. Einen Teil des Weges schien es dem Adler zu gefallen, getragen zu werden, und er wiegte sich auf meiner Schulter sanft auf und ab. Den Rest des Weges flog er vor mir her, als ob er mich zur Eile antreiben wolle. In der Scheune des Nonnenklosters angelangt, steckte ich den Vogel auf dem Heuboden in einen Käfig, den ich selbst aus Weiden geflochten hatte, und hieß ihn mit einem herzhaften Mahl lebendiger Mäuse willkommen, die ich gefangen und für diese Gelegenheit aufgehoben hatte.
Es gelang mir, den Juikabloth vor den Nonnen
geheimzuhalten und ihn trotzdem gut zu verpflegen und
nachts zur Übung frei fliegen zu lassen. Hin und wieder glitt eine Milchschlange auf der Suche nach einer Mahlzeit in den Stall; ich fing sie ein und bewahrte sie auf, bis sich die Gelegenheit bot, zu prüfen, ob der Adler noch auf das
Kommando »Släit!« hörte und sich auf den Köder stürzte.
Erst als ich sicher war, daß er mir noch gehorchte und nichts von dem vergessen hatte, was ich ihm beigebracht hatte, begann ich, ihn auf etwas Neues abzurichten.
Um diese Zeit jedoch, an einem warmen Herbsttag, umfing mich plötzlich von hinten eine kleine, zärtliche Hand, und ich hörte eine süße Stimme nahe an
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