Der Greif
hatten. Nicht zuletzt hatte ich natürlich sehr darunter gelitten, daß ich von Bruder Petrus mißbraucht wurde. Jetzt konnte ich den Ort beunruhigender
Enthüllungen und Vorkommnisse endlich verlassen.
Außerdem war ich noch jung und verfügte über die
Spannkraft und den Optimismus der Jugend. Ich hatte die Höhlen über den Kaskaden erforscht, einen Adler gefangen und gezähmt und die Aufgaben des Sekretärs übernommen, und meine Verbannung nach St. Pelagia war ein neues
Abenteuer. Ein Leben als Mädchen brachte vielleicht
interessante neue Erfahrungen und Erlebnisse mit sich.
Natürlich waren diesem Abenteuer enge Grenzen gesetzt, denn ich wußte schon seit langem, daß die Frauen und
Mädchen von St. Pelagia in größter Abgeschiedenheit
lebten. Nur sonn- oder feiertags war es ihnen erlaubt, das Kloster zu verlassen, um in der Kapelle von St. Damian der Messe und der Kommunion beizuwohnen. Auch Besucher
durften das Nonnenkloster nicht betreten. Sowohl die
einheimischen Bauern, die St. Pelagia mit Nahrungsmitteln und anderen Gebrauchsgütern belieferten, wie die Mönche von St. Damian, die Dinge wie Werkzeug, Bier und
Ledersachen brachten, die die Nonnen nicht selber
herstellen konnten, mußten am Tor des Klosters
haltmachen.
Innerhalb des Nonnenklosters herrschte eine ähnlich
strenge Zucht, und jeder Verstoß gegen die Regeln wurde schwer bestraft. Schon bald stellte ich fest, daß die
Gedanken einer Nonne genausowenig frei waren wie ihr
Körper. Ich weiß nicht mehr, welche Frage es war, die ich in Domina Aethereas Katechismusunterricht stellte - es war eine recht harmlose Frage, aber ich wurde jedenfalls durch das halbe Zimmer geprügelt. Stets hatten wir jüngeren
Mädchen eine feuerrote geschwollene Backe von den
gefürchteten Ohrfeigen, die die Äbtissin mit ihrer fleischigen Hand großzügig austeilte. Die älteren Nonnen hatten kein Mitleid mit uns. Sie sagten, diese Züchtigungen seien nicht schlimm, im Gegenteil, Gesichtsmassagen dieser Art seien nur gesund für die Haut. Die Ohrfeigen machten uns auch tatsächlich nichts aus, denn wenn Domina Aetherea die
Hand gegen uns erhob, hieß dies nur, daß sie nichts
anderes in ihrer Reichweite hatte, womit sie uns schlagen konnte. Wenn sich nämlich die Gelegenheit bot, griff sie zu jeder verfügbaren Waffe, von der Birkenrute bis zur Peitsche aus Rindsleder.
Die positiven Seiten des Lebens im Nonnenkloster wogen dessen Nachteile nicht auf. Jede von uns hatte eine eigene Zelle - selbst die Novizinnen mußten nicht im Schlafsaal schlafen -, und das Essen war so gut und reichlich, wie wir es in unserem fruchtbaren Tal erwarten konnten. Wir
hungerten also nicht, außer vielleicht geistig, und ich war die einzige, die bedauerte, daß St. Pelagia kein Skriptorium hatte und daß die Äbtissin alte Bücher und Schriftrollen, die sie besitzen mochte, niemandem zeigte. Keine einzige der Nonnen konnte lesen, nicht einmal die älteren, die lange in der Welt draußen gelebt hatten, bevor sie sich hier
einmauern ließen.
Wissen wurde uns nur in Form von Vorträgen, Predigten
und Ermahnungen übermittelt - manchmal von der Äbtissin, weit öfter aber von ältlichen Nonnen, die sich Erzieherinnen nannten.
Obwohl mir eingeschärft worden war, daß meine Bildung
von nun an nur aus dem bestehen würde, was meine
Erzieherinnen mir vermittelten, so mußte ich doch noch etwas ganz anderes lernen, was diese mir nicht beibringen konnten: Ich mußte lernen, mich wie ein Mädchen zu
benehmen.
Meine Mitschwestern merkten wahrscheinlich nicht, daß
ich sie genau beobachtete und nachmachte, wie sie sich bewegten: wie eine Frau zum Beispiel bewußt langsam den Arm bewegt, so daß der Muskel nicht hervortritt wie bei einem Mann, der diese Bewegung kräftiger und schneller ausführt; wie sie dabei gleichzeitig die Schulter zurücknimmt, so daß die Bewegung ihre Brust hebt; wie sie, wenn sie mit den Händen gestikuliert, Mittel- und Ringfinger stets
zusammenhält, um die Bewegungen der Hände
geschmeidiger und eleganter erscheinen zu lassen; wie sie, wenn sie den Kopf hebt, ihn gleichzeitig etwas zur Seite neigt, um die fließende Linie ihres Halses und ihrer Kehle zu betonen; wie sie ihr Gegenüber nie direkt ansieht, sondern immer ein wenig von der Seite oder - je nach der Situation -
hochmütig von oben oder schüchtern von unten...
Während mich all das ständige Anstrengung kostete, fiel es mir zu meiner freudigen Überraschung nicht schwer, mich
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