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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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meinem Ohr. Damals trat Schwester Deidamia in mein Leben.
    7
    Meine erste und meine letzte Begegnung mit Deidamia
    habe ich bereits geschildert. Dazwischen trafen wir uns oft, und da Schwester Deidamia mich vertrauensvoll in so vieles einweihte, sagte ich ihr auch ein Geheimnis von mir. Ich zeigte ihr den Adler und ließ sie zusehen, wenn ich ihn heimlich abrichtete.
    »Sein Name bedeutet›Ich kämpfe bis aufs Blut‹«, sagte
    Deidamia, »warum richtest du ihn darauf ab, Eier
    anzugreifen?« i
    »Die liebste Beute des Juikabloth sind Schlangen, aber er mag auch die Eier von Reptilien. Und gegen die braucht er natürlich nicht bis aufs Blut zu kämpfen, weil sie nur daliegen und nicht fliehen oder sich wehren.«
    »Aber das ist kein Schlangenei.« Deidamia zeigte auf das Ei in meiner Hand. »Das ist ein gewöhnliches Hühnerei. Es ist viel größer und sieht auch anders aus.«
    »Ich habe weder Zeit noch Gelegenheit, echte
    Schlangeneier zu suchen, liebe Deidamia. Ich muß mit dem zufrieden sein, was ich habe. Doch ich schmiere dieses Ei mit Fett ein, bis es glänzt wie ein Schlangenei. Dann lege ich es in dieses Nest, das ich aus Moos gemacht habe.«
    »Aber das Ei ist doch viel zu groß.«
    »Und damit ein besseres Ziel für den Adler. Wie ich dir erklärt habe, richte ich ihn darauf ab, sich aus großer Höhe auf das Ei zu stürzen und es mit Schnabel und Krallen zu zerfetzen. Gewöhnlich hüpft der Vogel nur zu einem Ei, das auf dem Boden liegt, und pickt es auf.«
    »Interessant«, sagte Deidamia, obwohl sie nicht sehr
    interessiert klang. »Du willst dem Vogel also etwas
    beibringen, was seiner Natur nicht entspricht.«
    »Zumindest versuche ich es. Sieh dir an, was er schon
    kann.«
    Ich nahm dem Vogel die Augenklappe ab und warf ihn
    hoch. Sofort stieg er zum Himmel hinauf. Dann legte ich das Nest aus Moos mit dem glänzenden Ei auf den Boden. Ich zeigte darauf und rief: »Släit!« Der Adler schwebte nur so lange über uns, wie er brauchte, um sein Ziel zu fixieren.
    Dann legte er die Flügel an und kam wie ein Pfeil
    heruntergeschossen. Schnabel und Krallen gruben sich in das Ei, und Eigelb und Eiweiß spritzten durCh die Luft. Ich ließ den Vogel noch eine Weile seine Mahlzeit genießen und rief dann: »Juikabloth!« Prompt kehrte er auf meine Schulter zurück.
    »Sehr eindrucksvoll«, meinte Deidamia und klang gar nicht beeindruckt. »Aber das ist doch mehr ein Zeitvertreib für Jungen. Glaubst du, so etwas ziemt sich für eine Novizin?«
    »Ich sehe nicht ein, warum Jungen und Männer die
    aufregenden Spiele für sich allein beanspruchen sollten, während wir nur die sanften Spiele haben.«
    »Weil wir eben sanfte Wesen sind. Anstrengende Sachen
    überlasse ich lieber den Männern.« Deidamia gähnte
    gekünstelt und lächelte dann schelmisch. »Aber spiele du, was du willst, kleine Schwester. Ich habe überhaupt nichts gegen deine Spiele einzuwenden.«
    Die gestrenge Domina Aetherea freilich und die
    schwatzhafte Schwester Elissa, die stets anderen
    nachspionierte, hatten eine ganze Menge dagegen
    einzuwenden. Ich habe bereits erzählt, wie sie mich und Deidamia auf frischer Tat ertappten.
    Bevor ich Balsan Hrinkhen für immer verlassen mußte,
    klärte mich Dom Clemens darüber auf, welch sonderbare
    Kreatur ich war. Bevor Dom Clemens mich zu unserer
    letzten Unterredung zu sich rief, hatte er viel Zeit im Chartularium verbracht und im alten Archiv der Abtei
    gewühlt.
    »Thorn, mein Kind«, begann er, und er sah genauso
    bedrückt aus, wie ich ausgesehen haben muß. »Wie du
    weißt, waren sowohl der Abt wie der Arzt, der dich
    untersuchte, als du auf der Schwelle dieses Klosters

gefunden wurdest, zur Zeit meiner Ankunft schon
    verstorben. Weder ich noch der Nachfolger jenes Arztes, unser Bruder Hormisdas, hatten seither Grund, dich
    nochmals zu untersuchen. Ich habe jedoch einen Bericht gefunden, welcher schildert, was jener Arzt feststellte, als er dich zum ersten Mal sah. Er hieß Chrysogonus. Ich
    wünschte, ich hätte früher nach dem Bericht gesucht, doch es werden nur selten Berichte über Klosterkinder angefertigt und noch seltener im Archiv der Abtei aufbewahrt.
    Dieser hier wurde nur deshalb verfaßt und aufbewahrt,
    weil du eine Seltenheit warst. Und Bruder Chrysogonus hat in seinem Bericht geschrieben, was er in seiner Funktion als Arzt mit dir tat.«
    »Mit mir tat?« wiederholte ich fast ärgerlich. »Wollt Ihr damit sagen, daß dieser Chrysogonus mich erst zu dem
    machte, was ich

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