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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Zorn zu beherrschen, der in ihm aufstieg. Nach einem Augenblick sagte er etwas ruhiger, aber noch mit einem Zittern in der Stimme: »Laß uns im Guten auseinandergehen, Thorn, schließlich waren wir
    Freunde. Ich habe dir den Rat eines Freundes gegeben und gebe dir nun aus Freundschaft einen Solidus. Dafür
    bekommst du über einen Monat zu essen und ein Dach über dem Kopf. Bitte gehe so weit wie möglich fort von hier, wo dich jeder kennt, bevor du ein neues Leben beginnst - das Leben, zu dem ich dir rate, oder ein anderes. Möge Gott mit dir sein. Vade in pace. Gehe hin in Frieden.«
    So verabschiedeten wir uns schweren Herzens
    voneinander. Ich sah Dom Clemens nie wieder. Allerdings verließ ich Balsan Hrinkhen nicht sofort, wie mir befohlen worden war, denn ich hatte zuvor noch einiges zu erledigen.
    Zuerst wollte ich meinen Juikabloth aus dem Kuhstall von St.
    Pelagia holen. Ich schlich mich also noch in derselben Nacht ins Nonnenkloster. Ich brauchte kein Licht, weil ich den Weg gut kannte. Als ich mich durch das Heu zu dem Käfig
    tastete, hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme fragen:
    »Wer ist da?« Entsetzt hielt ich inne.
    Doch dann erkannte ich die Stimme, und erleichtert sagte ich: »Ich bin's, Thorn. Bist du es, Schwester Tilde?«
    »Ja. Bist du es wirklich, Schwester Thorn? Oder... Bruder Thorn? Bitte, lieber Bruder, tu mir keine Gewalt an!«
    »Pst, Schwester, sprich leise. Ich tue niemandem Gewalt an, am allerwenigsten einer lieben Freundin. Was tust du hier zu dieser nächtlichen Stunde?«
    »Ich wollte nur nachsehen, ob dein Vogel gut versorgt ist.
    Stimmt es denn, Thorn, was man uns gesagt hat? Daß du
    ein Junge bist? Warum hast du dich als Mädchen...?«
    »Pst«, beschwichtigte ich sie wieder. »Das ist eine lange Geschichte, die ich selber noch nicht ganz verstehe. Aber woher weißt du, daß hier ein Vogel versteckt ist?«
    »Schwester Deidamia hat es mir gesagt, als sie noch
    sprechen konnte. Sie bat mich, ihn zu versorgen. Bist du gekommen, um ihn abzuholen?«
    »Ja. Ich freue mich, daß ihr an ihn gedacht habt. Aber was soll das heißen? Als sie noch sprechen konnte?«
    »Etwas ist in ihr zerbrochen, Thorn«, wimmerte Tilde.
    »Nonna Aetherea hat Deidamia mit der schrecklichen
    Lederpeitsche grausam ausgepeitscht. Den ganzen Tag
    immer wieder, sobald Deidamia zu sich kam.«
    »Die Bestie!« zischte ich. »Bei mir hat sie es versäumt, und jetzt muß die arme Deidamia für uns beide leiden.«
    Tilde schniefte und sagte: »Deidamia ist nicht mehr schön und Wohlgestalt wie einst. Nonna Aetherea schlug sie wild und ohne Nachsicht.«
    »Zum Teufel mit ihr!« fluchte ich. Dann kam mir plötzlich ein Gedanke. »Die Äbtissin hat doch einen gesunden Schlaf, oder?«
    »Ja, vor allem, wenn sie sich so verausgabt hat wie
    heute.«
    »Gut. Dann werde ich dafür sorgen, daß sie morgen
    keinen Gedanken mehr für Deidamia übrig hat. Komm, Tilde.
    Ich lasse den Adler hier und suche zuerst die Äbtissin auf.
    Du paßt auf, daß niemand kommt.«
    »Gudisks Himins! Du redest wirklich wie ein Junge. Keine wohlerzogene Novizin würde...«
    »Ich bin keine brave Nonne mehr. Doch du brauchst keine Angst zu haben. Wenn jemand kommt, während ich bei der Äbtissin bin, warne mich ganz einfach mit einem Zischen und bringe dich dann in Sicherheit. Tu es für Deidamia.«
    »Für dich könnte ich es nicht tun, Thorn. Selbst wenn ich es für eine Schwester täte, wäre es ein schändliches
    Verbrechen. Was hast du vor? Willst du der Äbtissin etwas antun?«
    »Nein, ich will der Furie nur zeigen, daß sie besser einer anderen Frau nacheifert, die vor langer Zeit gelebt hat und liebevoll und freundlich war.«
    Tilde begleitete mich also zum Fenster der Kammer, in der Domina Aetherea schlief. Schon von draußen konnten wir sie laut schnarchen hören. Ich kletterte durch das Fenster, und als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, sah ich die Äbtissin auf ihrer Bettstatt liegen. Sie schnarchte fürchterlich und schlief den Schlaf der Gerechten. Mit größter Behutsamkeit tastete ich nach dem kleinen, aber schweren kristallenen Fläschchen an ihrem Hals. Es hatte einen dicken Messingring, durch den eine fest verknotete Lederschnur gefädelt war.
    Da ich von Tilde nichts hörte und auch sonst kein Laut an mein Ohr drang, glaubte ich, genügend Zeit zu haben. Also benetzte ich den Knoten mit Speichel, damit das Leder sich vollsog und dicker wurde. Dann löste ich den Knoten mit geschickten Fingern. Er war

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